Jerry Walker hatte sich ein frisches Hemd angezogen und sein Kleiderbündel zusammengeschnürt. »Hör zu, Dad, ich weiß nicht, ob Zeugen dabei waren. Es ist mir auch völlig einerlei. Ich habe Ole ausgeblasen, und damit ist die Sache für mich erledigt, verstehst du?«
»Aber sie werden dich doch suchen! Sie werden dir folgen. Du weißt genau, daß du mehr Feinde als sonst was in der Stadt hast. Seit du Florence Campbell so gekränkt hast…«
»Auch das ist mir einerlei, Dad!«
Plötzlich hatte der Alte einen großen Armeerevolver in seiner behaarten braunen Faust.
Jerry hielt verblüfft inne und starrte auf die Waffe, deren Mündung auf ihn gerichtet war.
Der Bursche hob langsam den Kopf und blickte in die harten grauen Augen des Ranchers.
»Was soll das…?« preßte er mit belegter Stimme durch die Zähne.
»Was das soll? Das kannst du dir doch wohl selbst ausrechnen.«
»Du willst mich niederknallen?«
»Nein, aber ich werde dich daran hindern, zu fliehen.«
In die Augen des Jungen trat ein lauernder Zug.
»Fliehen? Wer will denn fliehen?«
»Du willst nicht fliehen?«
»Nein, wozu denn? Ich werde für das, was ich getan habe, einstehen.«
»So?« Der Rancher senkte den Colt. »Well, wenn es so ist, dann ist es gut. Es ist deine Sache, was du getan hast. Du bist alt genug und mußt es selbst wissen. Ich gehe jetzt hinaus und werde nachsehen, ob Cirby schon zu sehen ist.«
»Das ist er ganz bestimmt noch nicht.«
Der Rancher sagte leise: »Yeah, denn dein Pferd sah sehr strapaziert aus!«
»Ich bin eben scharf geritten.«
»Ich will hoffen…«
»Was?«
»Daß du nichts weiter beabsichtigst.«
Jerry schlug eine kurze schrille Lache an.
Da ging der Viehzüchter hinaus.
Im Hof war niemand zu sehen.
Drüben aus dem Geräteschuppen kamen die Hammerschläge, mit denen der kleine Jonny Brown einen neuen Hackenstiel bearbeitete.
Irvin Leclerc und James Kennedy arbeiteten ziemlich geräuschvoll oben in der Scheune.
Drüben vom Corral her kam das klatschende Geräusch der neuen Gatterlatten, die der alte Havelock mit dem Mestizen Pawel ablud.
Der Rancher trat bis an den Rand des Vorbaues und blickte nach Westen.
Noch war nichts auf der Prärie zu sehen. Und das Land war von den ersten zehn Sonnentagen schon ziemlich staubig geworden. Wenn also ein Reiter herankam, dann zog er immer eine Staubfahne, die weit eher als er selbst zu sehen war.
Pawel, der Indianer, wie sie ihn nannten, vermochte eine solche Staubfahne schon auf eine so unglaublich weite Entfernung hin zu sehen, daß man noch in aller Ruhe ein Mittagsmahl hätte verzehren können, ehe der Reiter die Ranch erreicht hatte.
John Walker hatte das Dach der kleinen Scheune links im Blickfeld, deshalb stieg er von der Veranda des Wohnhauses herunter und überquerte mit schwerem, müdem Schritt den Hof.
Am Küchenfenster stand seine Frau und sah ihm nach.
Wie alt er doch geworden war, dachte sie, und vermochte das schmerzliche Gefühl in der Brust bei seinem Anblick nicht zurückzuhalten. Ja, er war alt und grau geworden. Eigentlich schon zu früh.
Mrs. Hazel Walker wußte, daß ihr Sohn Jerry ein groß Teil Schuld daran trug, daß der Rancher so früh gealtert war.
Wie oft war der Mann nachts aufgestanden und hatte sein Pferd gesattelt, um den Sohn suchen zu gehen. Wie manche Winternacht hatte er wachend vorn im Eckzimmer am Fenster gesessen!
Und dann zogen wieder die Bilder vergangener, glücklicher Tage am geistigen Auge der Frau vorbei. Sie sah den Tag, an dem sie John Walker den Jungen geschenkt hatte, noch wie heute vor sich.
Ganz stolz war er gewesen, wie ein König hatte er den Neugeborenen auf seine Arme genommen und hochgehoben.
»Du bist mein Prinz«, hatte er gesagt. »Und ich will alles tun, damit du es einmal besser haben wirst, als ich es hatte.«
Der junge Walker hatte seinen Eltern die große Liebe, die sie an ihn gewendet hatten, schlecht, bitter schlecht belohnt.
Denn wenn der Rancher sein Pferd nachts aus dem Corral geholt hatte und den Sohn suchen ging, hatte auch die Frau gewacht. Mit brennenden Augen und einer Decke um die Schultern hatte sie am Fenster gesessen und in die Nacht hinausgelauscht. Wenn ihr Mann dann wieder zurückkam, hatte sie sich rasch wieder hingelegt, weil er nicht wollte, daß sie mitwachte, und weil sie ihm ihre Sorgen nicht zeigen durfte. Auch sie hatte diese Sorge um den mißratenen Sohn zerfressen, an ihrer Lebenskraft und Gesundheit genagt. Schon bald hatte ihr das Herz zu schaffen gemacht. Aber sie war still gewesen, all die Jahre hindurch. Um des Mannes willen.
*
John Walker schritt auf das Ranchtor zu.
Er blieb erst stehen, als er wußte, daß er von den Häusern, die den weiten Ranchhof säumten, nicht mehr gesehen werden konnte.
Da verharrte er, beschattete die Augen mit der Hand und beobachtete den westlichen Horizont.
Plötzlich zuckte er zusammen. Scharfer Hufschlag drang an sein Ohr.
Er kam von der Ranch.
Und dann sah John Walker den Reiter, der von der Rückseite des Wohnhauses aus davonsprengte.
Er floh!
Sein Sohn Jerry floh vor dem Gesetz, gegen das er sich vergangen hatte.
Mit einem dumpfen Schmerz krampfte sich das Herz des alten Mannes zusammen. Wie taub stand er da und starrte vor sich hin.
Es war die furchtbarste Stunde seines Lebens.
Aber er ging nicht zurück ins Haus. Er blieb auf seinem Posten und beobachtete weiter den Horizont im Westen.
Und da – wie ein winziger gelber Punkt stieg plötzlich hinter dem abfallenden Plateau eine Staubfahne auf, die sich wie ein hastendes Gespenst über die Savanne fortbewegte.
»Cirby.« Tonlos waren die beiden Silben von den Lippen des Ranchers gekommen.
Ganz langsam und mit seltsam hölzernen Bewegungen wandte er sich um und ging aufs Haus zu.
Die Frau sah ihn kommen – und wischte sich mit einem Schürzenzipfel durch die Augen.
Lieber Himmel! Wie alt war er doch wirklich geworden. Hatte sie vorhin, als er zum Tor ging, noch geglaubt, sie bilde es sich ein, so war es jetzt zur Gewißheit für sie geworden, als sie ihn kommen sah. Vornübergebeugt, mit hängenden Schultern und schleppendem Schritt, eingefallenem Gesicht und mit gesenktem Blick.
*
Sie konnte ja nicht ahnen, daß er zwischen diesen beiden Gängen ein furchtbares Erlebnis gehabt hatte…
Dann sah die Frau etwas Seltsames: Ihr Mann hatte sich hinter der Scheunenecke auf den schmalen Vorbau gestellt und sah sich nach dem Tor um, als erwarte er jemanden, den er überraschen wolle.
Die Minuten krochen dahin. In äußerster Anspannung stand die Frau hinter der Gardine und blickte zu ihrem Mann hinüber, dessen merkwürdiges Gebaren ihr um so sonderbarer vorkam, als weit und breit niemand zu sehen war.
Da! Ein Reiter preschte durchs Hoftor. Er hielt auf die Scheune zu, sprang vom Pferd und warf die Zügelleine über den Querholm.
Es war Dick Cirby, der Sheriff von Hickory.