Tumult und Grazie. Karl-Heinz Ott. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl-Heinz Ott
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783455811223
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die auf die schönen Melodien fixiert ist und all das, was den zeitgenössischen Ohren nicht passt, weglässt oder umschreibt und dabei dem Orchester die Rolle eines wohlgefälligen Begleiters zuweist, der ein bisschen romantische Soße über das Ganze zu gießen hat. Gemeint waren damit unter anderem die Bearbeitungen von Oskar Hagen, der Händels Werken auch noch zu Titeln und Gattungsbezeichnungen ganz nach seinem Geschmack verhalf, so etwa wenn er die Oper Serse in »Xerxes oder Der Verliebte König – Heitere Oper in drei Akten« umtaufte. Was aber die tragischen Opern anbelangt, so bedarf es ebenfalls keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, was sich damals auf der Bühne tat und dabei aus dem Orchestergraben hochgeschwappt kam, wenn sein Regisseur Hans Niedecken erklärt: »Der Expressionismus hat uns die Kraft gegeben, wieder ein echtes, erfülltes Pathos zu haben; in einem neuen Barock entladen sich die aus der Musik Händels erwachsenen Kräfte in breitausladender Geste, in den in mächtigen Schwüngen gestalteten Linien bewegter Massen.«

      Inzwischen sind jene Stimmen rarer geworden, die Darmsaiten und Holzflöten für armselige Vorgänger unserer brillanteren Gegenwartsinstrumente halten. Die lautmalerische Ausdrucksbreite, der wir seit einiger Zeit begegnen, überzeugt auch solche, die den Kult ums Authentische für Ideologie halten. Dass wir inzwischen etwas weniger in Kategorien des musikalischen Fortschritts denken, sondern die immensen Unterschiede zwischen einer barocken, klassischen und romantischen Musiksprache wahrnehmen, verdankt sich vor allem der historischen Aufführungspraxis. Die Frage, ob es sich dabei um etwas Originales handelt oder nicht, rückt dabei allein deshalb in den Hintergrund, weil sich die Verve und Vitalität, mit der die meisten Barockensembles zu Werke gehen, unmittelbar auf ihre Hörer überträgt. Dass viele Dirigenten es heute nicht mehr wagen, ein Konzert mit einem Bach- oder Händelhäppchen zu beginnen, deutet darauf hin, dass sie ihre Grenzen besser einschätzen können. Doch nach wie vor fragt man sich, wie Generationen von Musikern in der Lage sein konnten, einen Bach und Händel abzuliefern, der an Langeweile nicht zu überbieten war.

      Namen wie Harnoncourt, Trevor Pinnock, Christopher Hogwood, John Eliot Gardiner, Philippe Herreweghe, René Jacobs, Reinhard Goebel, William Christie, Frans Brüggen, Ton Koopman, Sigiswald Kuijken, Marc Minkowski, Emmanuelle Haïm und manch andere sind inzwischen aus unserem Musikleben nicht mehr wegzudenken. Doch man darf nicht vergessen, dass es nicht so sehr ein Harnoncourt oder ein Christopher Hogwood waren, die andere Spielweisen erfunden haben, schließlich gründete Anfang der dreißiger Jahre der Schweizer Dirigent, Mäzen und Eigentümer von Hoffman-LaRoche, Paul Sacher, jene Schola Cantorum Basiliensis, die längst der Basler Musikakademie angegliedert ist und als eine der wichtigsten Ausbildungs- und Forschungsstätten für barocke Aufführungspraxis gilt. Dass die Paul-Sacher-Stiftung zugleich die weltweit größte Sammlung von Werken des 20. Jahrhunderts besitzt, ist ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass das Freiburger Barockorchester sich mit dem auf zeitgenössische Musik spezialisierten »ensemble recherche« ein gemeinsames Dach als Proben- und Begegnungsort gesucht hat. Beides mag darauf hindeuten, wie eng die Neuentdeckung des Alten und die Gegenwart zusammengehören, und zwar weniger in einem vordergründigen kompositionstechnischen Sinne, sondern in Bezug auf das, was wir Hörgewohnheiten nennen. Dass zeitgenössische Komponisten unser Gehör herausfordern, ist hinlänglich bekannt, nur dass es die Spezialisten für Alte Musik nicht weniger, wenn auch auf andere Weise tun. So macht uns etwa ein René Jacobs eine scheinbar längst vertraute Musik meist gänzlich neu erfahrbar, und zwar zuweilen so sehr, dass man meinen könnte, sie überhaupt nicht wiederzuerkennen. Wer einmal gehört hat, welches Gekreische er die Countertenor-Hexen in Purcells Dido und Aeneas anstimmen lässt, weiß spätestens von da an, welche Kluft sich zwischen den herkömmlichen Aufführungsgewohnheiten und einem bislang in dieser Weise unbekannten, höchst affektiven und lautmalerischen Ausdrucksdrang auftut. Nicht anders ist es, wenn er eine Händel-Oper wie Rinaldo entstaubt und sie mit dem Freiburger Barockorchester in ein wahrlich furioses Ereignis verwandelt, bei dem – wie in der Uraufführung – Vögel zu singen beginnen und die Continuo-Begleitung einen ganzen Kosmos an Klangfarben hervorzaubert, und zwar von Anfang bis Ende.

      Während Karajan größten Wert darauf legte, dass seine Musiker jene Ansatzgeräusche zum Verschwinden bringen, die beim Erzeugen eines Tones entstehen, nutzen historisch orientierte Musiker dagegen alle nur erdenklichen Ausdrucksmöglichkeiten, und zwar deshalb, weil sie wieder erlebbar machen wollen, dass Instrumente einst nicht sich selbst und ihren eigenen Schönklang, sondern all das, was man als Naturlaute bezeichnen könnte, repräsentieren und übersteigern wollten. Wenn eine Saite kratzt und ein Horn patzt, kann das musikalisch weitaus mehr erzählen, als wenn es seine eigene Beschaffenheit so sehr transzendieren will, als handle es sich gleichsam um reine, körperlose Klänge. Schließlich kommt es gerade der Barockmusik darauf an, alle nur erdenklichen Affekte zum Sprechen zu bringen, und zwar mit einer Entschiedenheit, bei der Musik und Geräusch, Parodie und Pathos, Bizarres und Ergreifendes fließend ineinander übergehen, abrupt aufeinanderfolgen und eine so erstaunliche Ausdrucksbreite entfalten können, wie wir sie von kaum einer anderen Musik kennen und wie wir es ihr vor dreißig Jahren noch am allerwenigsten zugetraut hätten.

      Dass Barockensembles etwas Verspielteres ausstrahlen als unsere herkömmlichen Orchesterapparate, belegen oft schon die Namen, die sie sich geben. So nennt sich etwa ein englisches Vokalensemble I Fagiolini, was »Bohnen« bzw. »Dummköpfe« bedeutet, während andere sich Les Art Florissants, Anima Eterna, Giardino Armonico, The Hanover Band, La petite bande oder aber Orchestre révolutionnaire et romantique, Orchestre du XVIIIe Siècle, Orchestra of the Age of Enlightenment, Les musiciens du Louvre und La Grande Écurie et la Chambre du Roy nennen. Letztere haben sich einen aufschlussreichen Namen zugelegt, zumal »L’écurie«, was eigentlich Pferde- bzw. Marstall heißt, am Hof des Sonnenkönigs für alles stand, was sich draußen abspielte, also Paraden, Feiern, Schlachten, Jagden. Für all das bedurfte es einer entsprechenden Musik, für die in Versailles der aus Florenz stammende Jean-Baptiste Lully zuständig war, der sich eines Tages in höchster musikalischer Erregung mit dem Dirigierstab in den Fuß stach und kurz darauf seinen Verletzungen erlag. Für die Kammer, la Chambre, waren dagegen andere Musiker vorgesehen, so etwa jener Gambenvirtuose Marin Marais, der Anfang der neunziger Jahre durch den Film Die siebte Saite (Tous les matins du monde) auch bei uns einen größeren Bekanntheitsgrad erlangte, zumal Gérard Depardieu ihn spielte. Aber auch François Couperin, der bis heute Klavierschülern gelegentlich über den Weg läuft, war für die Musik innerhalb des Schlosses zuständig. Freiluft- und Tafelmusik waren im Prinzip strikt getrennt, womit sich auch erklären lässt, dass von Lully so viele fanfarenartige Werke überliefert sind, während Couperin und Marais vor allem Gamben- bzw. Cembalostücke hinterließen. Bei größeren Festlichkeiten wie Bällen, Balletten und Empfängen wurden die Kammermusiker allerdings durch Mitglieder der Grande Écurie verstärkt, wobei es aber auch innerhalb der Kammermusiker nochmals zwei Gruppierungen gab, deren kleinere La petite bande genannt wurde und einen Teil jener größeren mit der Bezeichnung La grande bande bildete, welche wiederum aus jenen berühmten Vingt-quatre Violons du Roi bestand, die sich aus vierundzwanzig Geigern zusammensetzten, die nichts weniger als subalterne Hofmusikanten waren, sondern allesamt einen Degen trugen, keine Steuern zahlen mussten und sich wie Aristokraten fühlen durften. Auch wenn Lully eine Zeit lang der Leiter aller dieser Ensembles war, ändert das nichts daran, dass sie unterschiedliche Kompetenzen besaßen und die einen in Park und Wald und Flur, die andern in den Sälen und Gemächern aufspielen mussten.

      Zu den kraftvollsten Vermittlern Alter Musik jedenfalls gehört die um den Oboisten Jean-Claude Malgoire versammelte La Grande Écurie et la Chambre du Roy. Händels sonst so oft bloß fad erbaulich wirkende Feuerwerksmusik lassen diese Musiker derart leuchten, dass man meinen könnte, sie schössen mit ihren Trompeten, Hörnern und Posaunen bei jedem Ton Pfeile in die Luft, weshalb sich die Fanfaren der Bläser-Ouvertüre weder gravitätisch bräsig noch feierlich steif anhören, sondern eine Leichtigkeit ausstrahlen, die eher an einen leuchtenden Sonnentag als an majestätische Aufgeblasenheiten denken lässt. Selbst wenn man solche Repräsentationsmusiken längst nicht mehr hören zu können meinte, erlebt man sie wie neu, wenn sie einem mit einer derartigen Energie wiederbegegnen. Ob es sich dabei um Originalklänge handelt oder nicht, ist höchst zweitrangig. Schließlich begeistern sie uns nicht deshalb, weil jetzt auf einmal alles geschichtlich korrekt klingt, vielmehr hören wir plötzlich wieder hin und staunen über uns selbst, und zwar deshalb, weil