Tumult und Grazie. Karl-Heinz Ott. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl-Heinz Ott
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783455811223
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Kanon, wie Pachelbel selbst ihn hörte«). Abgesehen davon muss ein Komponist nicht einmal der überzeugendste Interpret seines eigenen Werkes sein. Auch an Beckett hat sich gezeigt, dass er alles andere als ein inspirierter Regisseur war, wenn er seine Stücke inszenierte. Weil aber das, was wir mit dem Begriff Authentizität meinen, nichts Überprüfbares ist, stellt sich am Ende vor allem die Frage, ob uns eine Aufführung bannen kann oder nicht, ob sie uns mitreißt oder kaltlässt, aufrüttelt oder in den Schlaf befördert. Alles andere bleibt zu weiten Teilen der Spekulation überlassen, woran auch ein Gustav Leonhardt nichts ändern kann, wenn er meint, durch genaues Notenstudium zur einzig möglichen Wahrheit einer Komposition vordringen zu können und dadurch zum Sachwalter der Sache selbst zu werden.

      Trotzdem kann man daraus nicht schließen, alles sei beliebig, zumal jemand, der eine Blockflöte von vornherein durch eine heutige Querflöte ersetzt, nie erfahren wird, wie sehr einen beispielsweise die Wärme der beiden Flöten in Bachs Actus tragicus berühren kann. Allerdings gibt es auch ganz schlichte Gründe, zu Originalinstrumenten zu greifen, so etwa im Falle von Bachs Goldberg-Variationen, die auf dem Klavier an manchen Stellen schon deshalb Schwierigkeiten bereiten, weil sich dabei die beiden Hände gelegentlich entschieden in die Quere kommen und zuweilen sogar die gleichen Töne anschlagen müssen, weshalb sich auf ein zweites Manual kaum verzichten lässt. Dass eine solche Musik, auf einem Konzertflügel gespielt, trotzdem nichts vom gewohnten Interpretationstrott besitzen muss und einem auch schon vor der Entdeckung der historischen Aufführungspraxis die Ohren geöffnet werden konnten, zeigen allerdings nicht nur die Aufnahmen von Glenn Gould, der alles andere als ein Verfechter des Originalklangs war. Auch wenn er geradezu penetrant seine unverwechselbaren Manierismen kultivierte, gelang es ihm immer wieder, aus dem Klavier Klänge herauszulocken, die sich gar nicht mehr nach einem Klavier, sondern eher nach einer Laute oder sonst einem Zupfinstrument anhörten. Es ist, als drücke er dabei überhaupt nicht auf Tasten, sondern reiße äußerst vorsichtig an Saiten, so wie es etwa Streicher bei einem leisen Pizzicato-Spiel tun. Zuweilen hat man aber auch das Gefühl, er zerre damit manche Stücke ins Parodistische, so wenn er gelegentlich einem Suitensatz einen reichlich mechanischen Charakter verleiht, womit er vielleicht auf ganz andere Weise, als es den Apologeten des Authentischen vorschwebt, den Klang von Hammerklavieren nachzuahmen versucht. Nicht so sehr bei Bach und Händel, jedoch bei Mozart, den Glenn Gould nicht sonderlich schätzte, kippt dieses Mechanische sogar ins Komische um, so wenn er etwa das Alla turca derart automatenhaft abspielt, als handle es sich um eine Spieluhr. Was Glenn Gould allerdings mit den Vertretern der historischen Aufführungspraxis verbindet, ist sein ungewöhnliches Non-Legato-Spiel. Ohne es könnte er überhaupt nicht in so gut wie jedem Takt drei verschiedene Akzente setzen und jeden Pralltriller zu einem Ereignis werden lassen, was bei ihm auf jene durch und durch kristalline Weise geschieht, wie sie heutigen Barockspezialisten als Klangideal gilt.

      Ein paar Werke von Bach und Händel hat Glenn Gould auch auf dem Cembalo eingespielt, was sich bei ihm wiederum zuweilen nach einem frühen Klavier anhört, als suche er jedem Instrument ausgerechnet das zu entlocken, was nicht nach ihm klingt. Wie frei er dabei zum Teil verfährt, zeigt allein das Präludium von Händels erster Cembalo-Suite in A-Dur. Im Notentext haben wir es dabei vor allem mit liegenden Akkorden zu tun, die durch auf und ab gleitende Tonleitergirlanden miteinander verbunden werden. Glenn Gould verlebendigt diese akkordischen Pfundnoten nicht nur durch unentwegtes Arpeggieren, vielmehr löst er sie vollkommen auf und fängt an zu extemporieren, sodass das Stück sich wie eine virtuose Gitarrenimprovisation ausnimmt. Er verwandelt Händels Präludium schlichtweg in sein eigenes Stück, womit er sich allerdings keine maßlosen Freiheiten herausnimmt, sondern nur das macht, was während der Barockzeit Usus war. So erzählt Charles Burney, dem wir einen Großteil unserer Kenntnisse über die Musik des 18. Jahrhunderts verdanken, in seiner General History of Music, jener berühmte Kastrat Senesino, der einen Großteil von Händels Hauptrollen sang, habe auf der Bühne eine Arie des Komponisten Ariosti mit allem nur erdenklichen Gezottel, Gezappel und geckenhaften Verrücktheiten in ein ganz eigenes Stück verwandelt (»an exhibition of all the furbelows, flounces and vocal fopperies«).

      Der um 1653 in der Nähe von Rimini geborene Pier Francesco Tosi, selbst ein berühmter Kastrat, veröffentlichte 1723 eine Schrift mit dem Titel Opinioni de’ cantori antichi e moderni – »Meinungen alter und moderner Sänger« –, die der Direktor der königlichen Kapelle Friedrichs des Großen, Johann Friedrich Agricola, ins Deutsche übersetzte. Tosi schreibt darin, dass sein erster Lehrer – vermutlich sein Vater – ihm erzählt habe, wie die Sänger zunehmend die Marotte entwickelt hätten, in jede Arie endlose Kadenzen einzufügen, sodass die Opernabende kaum noch ein Ende finden wollten. Giulio Caccini wiederum erteilt im Vorwort zu seiner 1602 erschienenen Madrigal- und Ariensammlung Le nuove Musiche genaue Gesangsanweisungen, auf dass seinen Stücken nicht das passiere, was Graf Bardi, der Gründer der berühmten Florentiner Camerata, in einer ihm gewidmeten Abhandlung über die ältere und neuere Gesangsart zu beklagen hatte. Schließlich ist dort von Sängern die Rede, die derart wahllos eigene Passagen in Arien einfügten, dass der Komponist sein eigenes Werk nicht wiedererkennen könne. Um solche Exzesse einzudämmen, wurden damals Anleitungen für den angemessenen Gebrauch solcher Freiheiten ausgegeben, so etwa von Lullys Schüler Georg Muffat, der bezüglich des ornamentalisierenden Improvisierens ein paar grundsätzliche Regeln aufzustellen versuchte, und sei es nur, dass man nicht gleich den ersten Ton mit einem Triller ausschmückt. Immerhin findet es Johann Joachim Quantz, der Hauskomponist und Flötenlehrer Friedrichs des Großen, anlässlich eines Opernbesuchs in London der ausdrücklichen Erwähnung wert, dass Senesino in Händels Admeto nicht allzu viel improvisiert hat. Wie sehr dieses Ausschmücken nicht nur bei Sängern, sondern auch bei Musikern beliebt war, davon handelt eine Geschichte, die erzählt, wie der schottische Tenor Alexander Gordon sich während einer Probe bei der einzigen Arie, die er als nichtitalienischer Sänger in der Oper Flavio hatte, dermaßen über den am Cembalo sitzenden Händel aufregte, dass er zu singen aufhörte und schrie: »Falls Sie nicht endlich mit Ihrem endlosen Improvisieren aufhören, springe ich in den Orchestergraben!«, was Händel mit einem »Davon hätte das Publikum mehr als von Ihrem Gesang!« quittiert haben soll. Bei Charles Burney wiederum findet sich eine Anekdote, derzufolge der irische Geiger Matthew Dubourg, der im Jahre 1742 die Dubliner Uraufführung des Messias leitete, sich bei einer von Händel dirigierten Opernaufführung so sehr in einem labyrinthischen ad-libitum-Solo verloren habe, dass ihm längst die Grundtonart abhanden gekommen sei. Als er schließlich seine uferlose Kadenz doch noch mit einem signifikanten Triller zu Ende zu bringen gedachte, habe ihm Händel zugerufen: »You are welcome home, Mr. Dubourg!«, und dafür tobenden Applaus bekommen.

      Dass es letztlich doch auf so etwas wie Stilempfinden ankommt, darauf spielt auch Couperin im Vorwort zum ersten Band seiner 1713 veröffentlichten Pièces de Clavecin an, wenn er gesteht, das, was ihn berühre, viel lieber zu mögen als das, was ihn nur erstaune (»j’avoueray de bonne foy, que j’ayme beaucoup mieux ce qui me touche, qu ce qui me surprend.«). Dass in einem vorgegebenen Rahmen Ausschmückungen jedoch nicht nur erlaubt, sondern unabdingbar sind, belegt allein schon die Aussetzung jenes sogenannten Generalbasses, der lediglich aus einer ausgeschriebenen Basslinie besteht, die mit Ziffern versehen ist, durch die deutlich wird, um welche Akkorde und deren Umkehrungen es sich dabei handelt. Vivaldi weigerte sich sogar, den kargen Bassverlauf mit Ziffern zu versehen, zumal er der Meinung war, dass Musiker, die das brauchen, Idioten sind. In welcher Weise der Cembalo-, Lauten- oder Harfenspieler diese Linie ergänzt, muss sich aus dem Charakter des jeweiligen Stücks ergeben, wobei – wie bereits gesagt – zum Teil auch die Wahl der Instrumente offenstand und man schlichtweg auf das, was eben gerade zur Hand war, zurückgriff. Was wiederum Glenn Goulds frei gestaltetes Präludium aus Händels A-Dur-Suite anbelangt, so hat er es in eine Art Bachsche Toccata verwandelt, wobei bemerkenswert ist, dass Bach seine Toccaten vollkommen ausschrieb und dadurch so gut wie keinen Raum mehr für eine freie Gestaltung ließ, was ihm auch vorgehalten wurde. Dass Händels Präludium geradezu nach Improvisation ruft, lässt sich freilich gleich beim ersten Blick in die Noten erkennen, und zwar schon deshalb, weil es sterbenslangweilig wäre, würde man sie nur brav vom Blatt spielen.

      Selbstverständlich hat das barocke Ausschmücken und Variieren nichts mit jenen Bearbeitungen zu tun, wie wir sie im Falle Bachs von Busoni oder im Falle Monteverdis von Henze kennen. Immerhin schüttelte