Umso erstaunlicher, dass Die vier Jahreszeiten inzwischen nicht mehr wiederzuerkennen sind und die Geigen seit jüngstem wie im Eis knirschende, mit Metall beschlagene Fuhrwerksräder klingen und überhaupt kein einziges Instrument sich mehr so anhört, wie wir es bislang von ihm kannten. Auf einmal scheinen wir von einem unentwegten Zirpen, Knarren, Sirren und Scharren, von Windgeheul, Taubengeturtel, Kettengerassel und Hufgeklapper umgeben zu sein, als erstehe wie nie zuvor eine ganze Welt um uns herum, die man tatsächlich mit Augen zu sehen meint, eine Welt zwischen Breughelscher Winterstimmung und venezianischem Karneval, mit lauter Lautmalereien, angesichts derer man sich wundert, wie sie solchen sonst so rein klingenden Instrumenten wie einer Flöte und Laute überhaupt entlockt werden können. Nicht anders ist es bei Telemanns Hamburger Ebb & Fluth, wenn die Elemente zu toben beginnen, und zwar mit einer Lust und einer Wucht, als könne man von jenen wilden Stürmen gar nicht genug bekommen, die musikalisch auszuleiern beginnen, wenn die Winde ins Land hinein ziehen. Nur muss eine solche Musik eben federnd leicht und furios zugleich gespielt werden. Wen einst bei Händels Wassermusik eine lähmende Müdigkeit überkam, der kann auch sie längst neu entdecken, so etwa in der Einspielung von Harnoncourts Contentus Musicus, die so eckig und energisch, vital und kantig klingt, dass manche sie bei ihrem Erscheinen Ende der siebziger Jahre sogar für eine Parodie hielten. Dabei spricht allein das äußerst innig gespielte Andante in d-Moll, aber auch alles andere gegen jede satirische Absicht, ganz abgesehen davon, dass es inzwischen weit kühnere Zugriffe auf dieses Werk gibt. Was jedoch Harnoncourt und mit ihm alle, die im Namen einer historischen Aufführungspraxis frischen Wind ins Musikleben brachten, anstrebten, war die Wiederbelebung einer Klangrede, die mit jenem auf Hochglanz getrimmten Schönheitsideal aufräumt, wie wir es vor allem mit dem Namen Karajan verbinden, unter dem Harnoncourt als junger Cellist im Orchester gespielt hat.
Karajan steht dabei symptomatisch für eine Entwicklung, die mit der feldherrnartigen Beherrschung riesiger Orchestermassen im 19. Jahrhundert einsetzt, und zwar bereits zu einer Zeit, als der italienische Komponist und Dirigent Gaspare Spontini sich in Berlin anno 1819 den Titel eines Generalmusikdirektors zulegt, wie er an unseren Opernhäusern immer noch in Gebrauch ist. Wenn heutige Barockensembles auch die Symphonien von Beethoven und Schubert in kleineren Orchesterformationen spielen, lassen sich dabei musikalische und gruppendynamische Motive kaum auseinanderdividieren, zumal es zu den wesentlichen Anliegen einer historischen Aufführungspraxis gehört, an einem so durchsichtigen Klang zu arbeiten, dass nicht die Melodie das einzig Wichtige ist und alle restlichen Instrumente die Rolle einer Gitarre übernehmen. Wenn Debussy bemerkt, noch niemand habe Bachs Musik nachpfeifen können, hat er damit zwar nicht grundsätzlich recht, trifft aber einen richtigen Punkt. Schließlich verdankt sich die Anziehungskraft der wiederentdeckten Barockmusik ja unter anderem dem Umstand, dass auf einmal wieder allerlei Seitenlinien zum Vorschein kommen, Seitenlinien, die einen wie selten zuvor aufhorchen und merken lassen, wie polyphon eine Partitur selbst dort klingen kann, wo es sich nicht einmal um etwas Kontrapunktisches handelt. Statt mit einem Klangteppich haben wir es auf einmal mit einem Stimmengeflecht zu tun, angesichts dessen man zuweilen nur staunen kann, was sich dabei in den Zwischenlagen alles abspielt.
Ganz anders dagegen jener symphonische Grandiositätsgestus, bei dem eine ganze Infanterie aus Geigern, Paukern und Bläsern ein vollkommen homogenes Klanggewoge hervorzaubern soll, das wie jene blitzblank polierten Posaunen zu glänzen hat, die in den hinteren, höheren Reihen das streichende Fußvolk überragen. Damit ein solcher Strahleklang immer strahlender klinge, wird die Instrumentenstimmung seit langem ständig höhergetrieben, was inzwischen dazu geführt hat, dass der Kammerton bei manchen Orchestern beinahe schon die Grenze von 450 Hertz erreicht, während er zu Barockzeiten noch unter 400 lag. Auch hier steuert die Barockbewegung entschieden zurück, zumal ihr an nichts weniger als an einer Brillanz liegt, die sich selbst genügt. Als Karajan in einem Radiointerview einmal gefragt wurde, wie er die Musik von Alban Berg einstudiere, antwortete er: »Ich übe mit den Musikern so lange, bis sie schön klingt.« Ob es der Sinn von Alban Bergs Werken ist, vor allem schön zu klingen, darf allerdings genauso wie im Falle der Vier Jahreszeiten bezweifelt werden.
Jene »respektvolle Langeweile«, die – wie Adorno meint – manchen Leuten beim Hören von Barockmusik ein »masochistisches Entzücken« bereite, verdankte sich weit weniger der Musik selbst als denjenigen, die sie zu Gehör brachten. Ganz abgesehen davon war in musikalischer Hinsicht die Barockzeit eh weitgehend unentdeckt, sieht man einmal von jenen akademischen Nischen ab, in denen man sich mit ihr schon lange intensiver beschäftigt. Doch außer Bach, Vivaldi, Händel und ein bisschen Scarlatti standen bei Kammermusiken allenfalls noch gelegentlich Namen wie Albinoni, Corelli und Couperin auf dem Programm, wenn es um die Zeit vor Haydn und Mozart ging. Wer, außer einigen wenigen, kannte schließlich schon Emilio de’ Cavalieri, Alessandro Grandi, Giacomo Carissimi, Andrea Gabrieli, Giulio Caccini oder Stefano Landi, ganz zu schweigen von Komponisten, die geschichtlich noch weiter zurückliegen? Inzwischen hat sich jedoch eine Welt eröffnet, in der wir bei der Alten Musik unentwegt Neues entdecken, was keineswegs aus rein historischem Interesse geschieht, sondern vor allem deshalb, weil man gar nicht mehr begreifen will, dass wir uns so lange mit dem klassisch-romantischen Repertoire zufriedengeben konnten.
Dabei war der Aufstand groß, als sich immer mehr Musiker dazu entschlossen, ihre neuen gegen alte Instrumente einzutauschen und die Dinge anders, als man es gewohnt war, zu spielen. Schließlich fanden nicht nur solche Publikumslieblinge wie Yehudi Menuhin, dass Darmsaiten glanzlos klingen und sich Originalinstrumente nur stumpf und dumpf anhören. Dass jemand das Bedürfnis haben kann, wieder auf stählern, blechern, schnarrend und knarrend klingenden Hammerklavieren Haydn zu spielen oder Saiten auf seine Geige zu spannen, die unablässig nachgestimmt werden müssen, war in ihren Augen absurd. Bach, so hieß es, würde heutzutage auch auf nichts anderem als einem Steinway seine Kunst der Fuge zum Klingen bringen wollen und wäre dankbar dafür, dass es einen solchen technischen Fortschritt gibt. Während die historisch Orientierten an ihren alten Instrumenten die ungeahnte Klangpalette rühmten, klang in den Ohren ihrer Kritiker das, was ein Harnoncourt oder Hogwood hervorbrachten, nur wie eine einzige Sägerei und ein ungeschlachtes Geschrubbel, dem jeder Glanz und jede Eleganz abgehen. Rau, grob, ungeschliffen sei es und nichts anderes, hieß es entsetzt, als seien manche Zeitgenossen aus unerfindlichen Gründen in einen Rückschritt vernarrt, den man für immer überwunden glaubte.
Dass es reine Absicht sein kann, keinen Hochglanz zu erzeugen, sondern kratzig, harsch und bizarr zu klingen, belegen allein Rameaus höchst lautmalerische Cembalostücke, die Titel wie La Poule (das Huhn), La Follette (die Verrückte), La Boiteuse (die Hinkende), Le Rappel des Oiseaux (der Wachruf der Vögel) oder Les Sauvages (die Wilden) tragen. Wer es vermag, entlockt dabei dem eh schon spitz und scharf klingenden Cembalo allerlei Geräusche, die sich nach Scharren und Knarren, Zwitschern und Zirpen, Gerassel und Geklapper, Seufzern und dem Getrommel von Tambourinspielern anhören, durchmischt mit orientalischen Anklängen und Fanfarengelärm. Was Rameau alles an Naturgewalten zum Klingen bringen will, erleben wir wie nirgends sonst in seinem lautmalerisch kaum zu überbietenden Opéra-Ballet Les Indes Galantes, das unserem Gehör über Stunden hinweg ein berauschendes Schauspiel bietet, vom aufgepeitschten Meer und dem orkanartigen Wüten der Winde über ganze Erdbeben bis zum friedlichen Säuseln des Zephyrs. Wie sehr Rameau es um eine überbordende Affekt- und Bildersprache zu tun ist, belegen auch Spielanweisungen, wie sie sich etwa über einem Satz aus der Suite Hippolyte et Aricie finden, über dem nicht etwa Musette, sondern bruit de musettes geschrieben steht, was man mit Musette-Geräusch bzw. Musetten-Krach übersetzen könnte.
Natürlich