Karl-Heinz Ott
Tumult und Grazie
Über Georg Friedrich Händel
Hoffmann und Campe Verlag
Für Albrecht Puhlmann
Heute morgen eine Art von Glück,
das (sehr schöne, sehr schwerelose) Wetter,
die Musik (Händel), Amphetamin, Kaffee,
die Zigarre, eine gute Feder, Küchengeräusche.
Roland Barthes, Tagebuch von Urt, 18. Juli 1977
Die stinklangweilige Barockmusik
Auf einmal ist alles anders. Man hört wieder hin, staunt und fragt sich, aus welcher Art von Geigen, Pfeifen und Harfen solche Kratz- und Klirrgeräusche kommen, weiß aber oft nicht einmal, wie diese Instrumente überhaupt heißen. Mit Bildern vor Augen wie von alten flämischen Malern, auf denen dickbäuchige Lauten mit langen Hälsen die Hauptrolle spielen und knollennasige Musikanten in Wirtshäusern aufspielen, begegnen wir inzwischen auch in unseren Konzertsälen Klängen, die ein wenig fremd und manchmal beinahe folkloristisch zugleich anmuten, ohne dass wir im Einzelnen wüssten, was eine Theorbe, Erzlaute oder ein Chitarrone ist, jedoch sofort wahrnehmen, wie warm, weich und dunkel Blockflöten im Unterschied zu ihren jüngeren Schwestern, den schrillen Querflöten, tönen. Vor dreißig, vierzig Jahren war das alles noch anders, zumindest im Großen und Ganzen. Wer sich damals aufmachte, auf alten Gamben zu spielen, hatte als Student bei seinem Lehrer alles andere als gute Karten und konnte zuweilen bloß hoffen, nicht gleich hinausgeworfen zu werden. Wer sich auf Barockmusik spezialisieren und sie auch noch anders als gewohnt spielen wollte, musste befürchten, als Versager dazustehen, der ein Schlupfloch sucht, um sein Mittelmaß mit Kuriositäten zu kompensieren. Schließlich dienten Bachs Brandenburgische oder Händels Concerti grossi bei Konzerten vor allem zum Aufwärmen, um erst danach richtig loszulegen. Sieht man einmal von Dirigenten wie Karl Münchinger oder Karl Richter ab, die schon nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Schwerpunkt auf die Zeit zwischen 1700 und 1750 legten, so galt Barockmusik ansonsten als die Vorläuferin einer Klassik, die in Beethoven gipfelt und von dort aus in eine Romantik übergeht, in welcher der symphonische Sound nicht dicht und dick genug klingen und die Orchester nie groß genug sein konnten, um die Abgründe und Aufschwünge der Seele zum Sprechen zu bringen.
Barockmusik dagegen bestand aus solcher Perspektive vor allem aus Nähmaschinengeratter, schematischen Affekt-Arien, Cembalogezirpe und jenem monotonen Rezitativgesinge, wie man es in den endlos sich hinziehenden Passionsmusiken erleben musste, deren pure Länge einem tatsächlich etwas von Christi Leiden zu vermitteln schien. Zwar gehörte für einen Konzertpianisten das Wohltemperierte Clavier allein deshalb zum Pflichtprogramm, weil er beweisen musste, wie behende sich seine Finger auch beim Fugenspiel krümmen lassen, obwohl er vielleicht viel lieber den virtuosen Irrwisch gegeben und mit Rachmaninoffs Getöse brilliert hätte. Die Hochachtung vor der Komplexität der Kontrapunktik musste man aber eben auch zur Schau stellen, selbst wenn sie unterkühlt war und oft reichlich wenig mit Lust und Liebe zu tun hatte.
Für jemanden wie Adorno beginnt die neuzeitliche Musikgeschichte im Grunde eh erst mit Beethoven, aus dessen Symphonien man ganze französische Revolutionen, napoleonische Kriege und tausend subjektive Zerrissenheiten heraushören kann, lauter soziale und seelische Dramen, aus denen sich eine regelrechte Geschichtsphilosophie schmieden lässt. Weil Bach und Händel sich für derlei schwerlich eignen, handelt Adorno fast alles, was vor 1750 komponiert wurde, in Nebensätzen ab, die nicht selten etwas Wegwerfendes besitzen, und sei es, dass er Telemann als eine musikalische Manufaktur abkanzelt oder Heinrich Schütz als einen hölzernen, kontrapunktisch unbedarften Vorgänger von Bach abstempelt. 1955 veröffentlicht er zwar einen Essay mit dem Titel Bach gegen seine Liebhaber verteidigt, in dem er dem Thomaskantor durchaus seine Bedeutung bestätigt, in Wirklichkeit jedoch seinen Anhängern vorhält, jenen Jazzfans zu gleichen, denen es vor allem darum gehe, sich einer eingeschworenen Kennergemeinde zugehörig fühlen und sich von der Masse absetzen zu können. Im Übrigen, so Adornos Diagnose, verberge sich bei den Barock-Verehrern die alte Sehnsucht nach einer Autorität, der man sich mit dem Gefühl, sie frei gewählt zu haben, in einer als haltlos empfundenen Welt unterordnen könne. Auch wenn Adorno dabei ein paar sektiererisch wirkende Zeitgenossen vor Augen gehabt haben mag, wird man den Verdacht nicht los, er ziele im Grunde weniger auf Bachs falsche Liebhaber als diese gesamte Musikrichtung.
Bedeutende Abhandlungen, wie wir sie von ihm in Bezug auf Beethoven, Wagner und Mahler kennen, hat er, was barocke Werke anbelangt, nie vorgelegt. Bedeutsam wird für ihn Musik erst dort, wo man auf das sogenannte bürgerliche Subjekt trifft, was ganz schlicht heißt, dass dabei ein Leiden zum Ausdruck kommen muss, das von der Heillosigkeit einer Welt kündet, die sich am allerwenigsten mit einer religiös inspirierten Musik auffangen lässt. Adornos Kosmos bevölkern jene Verlorenen, metaphysisch Unbehausten, zutiefst Verwundeten, wie wir ihnen angefangen beim romantischen Lied bis hin zu Beckett begegnen, von dem nicht zufällig eines seiner nahezu sprachlosen Zehn-Minuten-Stücke Nacht und Träume lautet. Zwei Männer sitzen dabei somnambul auf einer fast dunklen Bühne, während zwei weitere durch den Raum geistern und wir eine Stimme die letzten sieben Takte von Schuberts titelgebendem Lied singen hören. Eine Kunst, in der das Preisen und Rühmen auch seinen Platz hat, kommt Adorno von vornherein suspekt vor. Schließlich ignorierte er auch Olivier Messiaen, und sei es, weil für ihn ein zeitgenössischer Komponist, der sich als Christ fühlt, als contradictio in adjecto gelten musste.
Ob die Behauptung, dass erst nach der Barockzeit musikalische Subjektivität aufkommt, tatsächlich so evident ist, wie unsere gängigen Geschichtsvorstellungen suggerieren, darf man bezweifeln. Schließlich begegnen wir gerade bei Händel immer wieder einer Musik, die ins Schema einer barocken Affektmaschinerie nicht im Geringsten passt. Selbst wenn die ihnen unterlegten Verse jener Psychologie entraten, deren Zentrum unauflösbare Ambivalenzen bilden, drücken sich in vielen seiner Arien weit schillerndere Seelenzustände aus, als wir sie in den schlicht gestrickten Klage-, Jubel-, Wut- und Liebesgesängen der damaligen opera seria finden. Deutlich wird das bereits daran, dass Händel das übliche da-capo-Schema immer wieder aufbricht und man manchmal kaum ahnt, ob es sich noch um ein Rezitativ oder bereits eine Arie oder beides zusammen handelt, das ineinanderfließt, womit er weit ins 19. Jahrhundert vorausweist. Vor allem in Händels Oper Teseo lassen sich solche Tendenzen erkennen, so etwa in Medeas zwischen innigem Frieden und Verzweiflung schwankendem »Dolce riposo«, das wie eine große Arie beginnt, jedoch nach wenigen Takten seinen rezitativischen Charakter verrät, um dann sofort wieder in einen dramatischen Gesang überzugehen, wobei diese gesamte Szene mit zwei Arien, die sie hintereinander singt, und einem aufgewühlten Streit-Duett, das sich dem auch noch anfügt, nahezu das Ausmaß eines ganzen halben Aktes annimmt.
Andererseits muss man jemandem wie Adorno zugutehalten, dass es zu seiner Zeit kaum Gelegenheiten gab, Barockmusik anders als von Orchestern zu hören, die einen satten, durch die Romantik geprägten symphonischen Sound pflegten, was bei Händel und Bach gerade dann, wenn er strahlen sollte, oft ungemein dick, schwerfällig, breit und sogar breiig klang, ganz zu schweigen von solchen Sängern, die auch noch gravitätisch auf die Tube drückten und filigrane Gesangsgirlanden in Wagnersche Heldengesänge zu verwandeln suchten. Allerdings gehörte Adorno auch zu denen, die es für einen Rückfall in schiere Barbarei hielten, wenn diese Musik ernsthaft wieder auf alten Instrumenten gespielt werden sollte. Im Übrigen war er der Meinung, man brauche Händel, wenn es ums Polyphone gehe, erst gar nicht zu erwähnen, da Händel seine Fugen in einem pastosen Stil