Tumult und Grazie. Karl-Heinz Ott. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl-Heinz Ott
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783455811223
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nichts mehr übrig, ganz zu schweigen davon, dass von Transparenz keine Rede sein kann und die Sänger wahrlich walkürenhaft drauflosdröhnen müssen. Dass das Bedürfnis, den Klang zu verdichten und ihn gleichzeitig geschmeidiger zu machen, schon bei Mozart aufkam, zeigen seine Bearbeitungen des Messias und anderer Werke von Händel, die im Auftrag des Barons van Swieten zustande kamen. Dabei ist gegen Stimmverdoppelungen, das Hinzufügen weiterer Instrumente, Transpositionen und auch Streichungen und Straffungen, wie Mozart sie vornahm, nicht grundsätzlich etwas zu sagen, zumal Händel mit seinen eigenen Werken und denen anderer nicht anders verfuhr. Im Übrigen wurde in der Barockzeit auch die Wahl der Instrumente weit freier als zu späteren Zeiten gehandhabt, was schlichtweg daran lag, dass es beim Generalbassspiel keine allzu große Rolle spielte, ob dabei ein Cembalo oder eine Laute oder beide zusammen zum Einsatz kamen, zumal man in aller Regel einfach zu denjenigen Instrumenten griff, die gerade zur Verfügung standen.

      Während Händel und Bach ihren eigenen Schöpfungen gegenüber ein reichlich pragmatisches Verhältnis besaßen, kommt mit dem romantischen Geniegedanken auch die Vorstellung auf, dass ein Werk etwas in sich Geschlossenes und damit Unantastbares ist. Was allerdings nicht heißen kann, dass es völlig beliebig ist, wie wir mit barocken Werken umgehen. Immerhin erfahren wir erst wieder durch die kleineren Besetzungen mit Originalinstrumenten etwas über die eklatanten Unterschiede nicht nur zwischen einem Bach- und Beethoven-Orchester, sondern bereits zwischen einem solchen, wie Haydn es am Hofe Esterhazys zur Verfügung stand, und jenem Londoner, für das er seine viel großzügiger und prächtiger angelegten späten Symphonien komponierte. Weil das eine dünner und das andere bombastischer klingt, gehen wir jedoch davon aus, dass Komponisten ihre Werke immer schon viel lieber für modernere Instrumente und riesigere Orchesterapparate geschrieben hätten und Bach lieber heute als morgen das Cembalo gegen einen Konzertflügel eingetauscht haben würde. Wer allein in solchen Fortschrittskategorien denkt, muss es natürlich vollkommen absurd finden, wenn heutzutage Musiker auf jene antiquierten Flöten, Oboen, Hörner und Gamben zurückgreifen, die bloß als Vorstufen unserer viel perfekteren Exemplare gelten dürfen.

      Da Bach seine Suiten aber nun einmal für ältere Instrumente und Haydn seine ersten fünf Dutzend Symphonien für Kammerorchester konzipierte, hatten sie andere Klangvorstellungen im Kopf, als wenn sie für einen Steinway oder Londons üppige Orchesterbesetzung gedacht gewesen wären. Nur der geschichtsphilosophische Glaube, das Spätere sei auch das Bessere, konnte dazu führen, dass Klangkörper, die an Beethoven und Brahms geschult sind, sich auch für Händels Feuerwerksmusik zuständig fühlten. In solchen aufgeblähten Bach- und Händel-Bearbeitungen, wie sie etwa von Stokowski stammen, kippt der orchestrale Gigantismus fast schon wieder unfreiwillig ins Parodistische um, wobei man diesem Monumentalklangfanatiker im Grunde sogar dankbar dafür sein muss, dass er diese Tendenzen bis zum Exzess getrieben und damit vorgeführt hat, wie die Gier nach Fülle das Gegenteil dessen, was sie anstrebt, hervorbringen kann. Wer allerdings eine Händel-Oper je mit einem heutigen Barockensemble erlebt hat, mag von da an im Graben kein auf Verdi und Wagner getrimmtes Orchester mehr sitzen sehen, wenn es um Werke geht, die vor 1750 entstanden sind. Zwar können die meisten Opernhäuser es sich kaum leisten, dafür eigens Spezialisten zu engagieren, doch es kommt durchaus vor, dass in Straßburg Les Arts Florissants, in Basel das Freiburger Barockorchester, an der Lindenoper die Akademie für Alte Musik Berlin oder das Balthasar-Neumann-Ensemble im Pariser Palais Garnier an Stelle der fest angestellten Musiker aufspielen. Ein kleineres Opernhaus wie in Lille wiederum, das kein eigenes Orchester besitzt, hat sich inzwischen dafür entschieden, regelmäßig mit dem von Emmanuelle Haïm gegründeten und geleiteten Le Concert d’Astrée zusammenzuarbeiten, was heißt, dass dort in jeder Saison Werke auf dem Programm stehen, die von einem der führenden Barockensembles aufgeführt werden. Wer als Geiger ständig mit Beethoven, Brahms und Mahler beschäftigt ist, wird im Unterschied zu diesen Spezialisten schwerlich in der Lage sein, von heute auf morgen eine Musik zum Klingen zu bringen, bei der das Vibrato keine Rolle spielt und die von viel schärferen Akzenten und einer Verzierungstechnik lebt, wie sie später überhaupt nicht mehr existiert, ganz zu schweigen davon, dass bei einem Händel oder Caldara bei weitem nicht all das, was diese Musik erfordert, bereits in den Noten zu finden ist. Doch damit sich allmählich die Einsicht durchsetzen konnte, dass nicht erst zwischen Bach und Beethoven, sondern bereits zwischen Händel und Haydn Welten liegen, hat es im Allround-Klassikbetrieb des 20. Jahrhunderts lange gebraucht.

      Was aber als historisch korrekt zu gelten hat und was nicht, darüber lässt sich endlos streiten. Gustav Leonhardt, einer der Pioniere barocker Spielpraxis, legte stets Wert auf die Feststellung, es handle sich bei dem, was er macht, um keine Interpretationen, sondern um das, wie es vom Komponisten gedacht sei. Doch selbst dann, wenn man Leonhardts Einspielungen für das Nonplusultra halten mag, heißt das noch lange nicht, dass er damit keine Interpretation, sondern die Sache selbst, so wie sie zu sein hat, vorgelegt hat. Wer sich über jede Hermeneutik erhaben glaubt, offenbart damit nur seine Unbedarftheit, was jene vielfältigen geschichtlichen, kulturellen und biographischen Vermittlungsprozesse anbelangt, die wir keineswegs im Griff haben und überschauen können. Schließlich bringen wir bei jedem Blick in einen Notentext bereits tausend Voraussetzungen mit, und zwar zum größten Teil solche, die uns gar nicht bewusst sind. Der Glaube an die Unschuld eines handwerklich richtigen Verstehens, mit dem sich alles falsch Dazwischengeschaltete scheinbar fernhalten lässt, besitzt etwas erstaunlich Naives. Dass handwerkliches Wissen und Können als Voraussetzungen einer jeden Aufführungspraxis zu gelten haben, ist selbstverständlich, doch allein damit lässt sich keineswegs hinreichend erklären, warum William Christies Tempi andere als diejenigen von Trevor Pinnock sind und warum bei dem einen das gleiche Andante weit heiterer als beim anderen klingt. Der Notentext selbst gibt vor allem Auskunft darüber, was nicht in ihm steht, was ja schon sehr viel ist, nur dass dieses Nicht-Vorhandene in der barocken Spielpraxis etwas ganz anderes als in jenen späteren Zeiten bedeutet, in denen die freie verzierende Ausgestaltung als selbstherrlicher Eingriff in die innere Struktur eines Werks gegolten hätte, während sie im Barock unbedingt gefordert war.

      Zwar erfahren wir über damalige Spielweisen sehr vieles aus musiktheoretischen Abhandlungen, wie sie etwa Händels Hamburger Weggefährte Johann Mattheson in seiner Grossen General-Baß-Schule oder der Schrift Der vollkommene Kapellmeister verfasst hat. Andererseits darf man solche Abhandlungen nicht nur als Bestandsaufnahmen lesen, sondern muss auch sehen, dass der Verfasser mit ihnen normativ eingreifen wollte. Im Übrigen können einem diese Schriften bei aller Detailliertheit trotzdem nicht erklären, wie temperamentvoll oder unaufgeregt man ein Werk anzugehen hat. Die inständige Beteuerung, von eigenen Auslegungsbedürfnissen und geschichtlichen Einflüssen radikal absehen zu wollen, mag zwar ernst gemeint sein, blendet jedoch aus, dass wir schon deshalb nicht souverän über unsere Deutungsprozesse gebieten können, weil alles, was wir tun, auch eine Reaktion auf etwas bereits Vorhandenes ist, ob es uns bewusst ist oder nicht. Ein Karl Richter hätte schließlich mit dem gleichen Recht von seinen Bach-Aufführungen behauptet, dass sie authentisch sind, wie es Gustav Leonhardt für sich beansprucht. Doch beide bringen Voraussetzungen mit, über die sie nicht frei verfügen, und sei es, dass der eine von diesem, der andere von jenem Lehrer geprägt ist oder dass er es absichtlich anders machen will, als es bis dahin üblich war. Allein die Frage, wie viel wir aus einem Notentext heraus- und wie viel wir in ihn hineinlesen, lässt sich kaum eindeutig beantworten. Dass eine da-capo-Arie anderen Regeln gehorcht als ein Wagnerscher Gesang, sieht beim Blick in die Partitur selbst ein Blinder. Was das allerdings im Einzelnen fürs barocke Phrasieren bedeutet, ist damit noch lange nicht gesagt. Während ein Gustav Leonhardt an authentische Lesarten glaubt, gilt in der Philosophie des 20. Jahrhunderts als weitgehend ausgemacht, dass nichts illusionärer ist als der Glaube an das Ursprüngliche und Echte. Wo das Uneigentliche endet und das Eigentliche beginnt, lässt sich schon deshalb schwer sagen, weil diese Unterscheidungen selbst ja bereits auf begrifflichen Entgegensetzungen beruhen und damit Voraussetzungen mit sich bringen, die alles andere als naturwüchsig und kulturell unschuldig sind.

      Ungeachtet solcher Grundsatzfragen hängen wir mit dem Ruf nach dem Echten auch deshalb in der Luft, weil trotz noch so vieler historischer Studien keiner von uns wissen kann, wie Barockmusik damals tatsächlich geklungen hat. Schließlich wissen wir nicht, wie rasant Bach selbst seine Presti genommen hat oder ob Händel die Fanfarenstöße seiner Feuerwerksmusik eher gravitätisch oder leicht gespielt haben wollte.