Die Fähigkeit, aus einer Partitur auch und gerade dann ein Ereignis zu machen, wenn der Notentext, wie es nicht nur bei Händel üblich ist, zuweilen reichlich spärlich aussieht, setzt eine viel freiere musikalische Phantasie voraus, als man sie bis vor kurzem noch für erlaubt hielt. Dabei sollte sich die Vitalität, mit der Barockensembles anfangs tatsächlich nur Werke aus Händels und Bachs Zeit aufführten, so ansteckend auswirken, dass längst auch Haydn und Mozart, Beethoven und Schubert merklich frischer und farbenreicher als noch bis vor wenigen Jahrzehnten klingen. Und wenn John Eliot Gardiner sich mit seinem Orchestre révolutionnaire et romantique an Berlioz’ Symphonie Fantastique macht, gerät selbst hier, wo wir ein wildes Toben gewohnt sind, auf einmal alles glasklar, als ließe jedes Instrument sich jederzeit von allen andern unterscheiden, ohne dass dem Ganzen deshalb etwas an Erregung abhandenkäme, nur dass alles Auffahrende und Aufgepeitschte auf einmal weniger lärmend, sondern zuweilen sogar richtiggehend tänzerisch und auf wahrlich musikantische Weise schmissiger klingt. Interessant an dieser Entwicklung ist, dass nicht nur Barockspezialisten wie Harnoncourt oder Minkowski längst bis ins tiefe 19. Jahrhundert vorstoßen, sondern ebenso Dirigenten, die sich nicht der historischen Spielweise verpflichtet fühlen, Impulse von ihr aufnehmen. Als Claudio Abbado beispielsweise vor einigen Jahren Beethovens Symphonien neu einstudierte, arbeitete er mehr denn je jene vielen Stimmen heraus, die dem Wuchtigen dieser Werke auf einmal ein lichtes Gepräge geben können.
Vollkommen anders, als es ihnen prophezeit wurde, sollten ein Hogwood oder Harnoncourt keine Einzelfälle bleiben, sondern zum Motor einer musikalischen Bewegung werden, die mit so gut wie allem aufräumt, was im Klassikbetrieb vor einem halben Jahrhundert noch als hoch und heilig galt. Das betrifft nicht nur unsere gewandelten Klangvorstellungen, sondern auch das Selbstbild von Musikern, die es sich nicht mehr vorstellen können, einem Chef untertan zu sein, der das Orchester piesackt. Karl Böhms legendäre Widerwärtigkeiten und Karajans ikonenhafte Selbstinszenierungen, all das mag es in Ansätzen zwar immer noch und immer wieder geben, doch nicht zufällig sind die beiden in Zusammenhängen groß geworden, die man sich vor allem politisch nie mehr zurückwünscht. Von heute aus gesehen wirken ihre autokratischen Attitüden und Allüren reichlich lächerlich, doch sie haben nahezu ein Jahrhundert lang eine Atmosphäre geprägt, die von Gigantomanie und Subordination geprägt war.
In so manchen Barockensembles, die sich vor zwanzig, dreißig Jahren gegründet haben, wurde zuerst einmal monatelang über alle Arten von Phrasierungsmöglichkeiten und Tempovorstellungen geredet, bevor man ein Konzert gab. Bei jedem Ton sollte geklärt werden, warum man ihn so und nicht anders spielt, jeder Übergang wollte gemeinsam überlegt sein, und überhaupt gab es rein gar nichts mehr, was von vornherein als selbstverständlich galt, vor allem keinen Chef, der sagt, wo es langgeht. Auch die erste Geige wechselte zuweilen bei so gut wie jedem Konzert, und zwar schon deshalb, damit jeder die gleiche Verantwortung übernimmt und eine andere Kultur des Zusammenspiels eingeübt wird. Dass inzwischen auch hier der Alltag Einkehr gehalten hat und es längst wieder herkömmliche Aufgabenzuweisungen gibt, scheint schon deshalb unvermeidlich zu sein, weil das Habermassche Ideal vom herrschaftsfreien Dialog voraussetzt, dass Ergebnisse erst dann zustande kommen dürfen, wenn immer alle mit allem einverstanden sind. Wer nach einem solchen Prinzip zu arbeiten versucht, darf keinerlei Zeitdruck unterliegen und sollte möglichst frei von dem Zwang sein, auch Geld verdienen zu müssen. Wer aber je ein Barockensemble auf der Bühne agieren sah, weiß, dass es in aller Regel einen weit lebendigeren Eindruck als jene Orchester macht, in denen der Einzelne nichts anderes als ein kleiner Teil des Ganzen ist und in einem Repertoirebetrieb funktionieren muss, der keine langen Diskussionen darüber erlaubt, ob die Mehrheit der Musiker sich lieber auf Wagner oder Mahler, Verdi oder Strauss, das 18. oder 20. Jahrhundert kaprizieren möchte. In ein Barockensemble dagegen drängen vermutlich in erster Linie Musiker, die viel genauer wissen, was sie wollen, und die in aller Regel noch weit häufiger als die meisten Orchestermusiker in kleineren Formationen auftreten, ohne dabei nur auf Gigs aus zu sein. Auch wenn man sich mit Idealisierungen zurückhalten muss und der inzwischen allgegenwärtig gewordene Barockbetrieb ebenfalls etwas Routinemäßiges besitzt, meint man nach wie vor zu sehen, wie anders diese Musiker in das, was ihren Alltag ausmacht, involviert sind.
Als Reinhard Goebel mit der Musica Antiqua Köln im Jahre 1986 Bachs Brandenburgische Konzerte herausbrachte, standen die Leute Kopf, und zwar sowohl die Begeisterten als auch die Entsetzten. Das sechste Konzert in B-Dur etwa spielt dieses Ensemble bei höchster Präzision derart rasant, dass man es auf Anhieb kaum wiedererkennt. So wild und trotzdem unerhört transparent, wie es klingt, entdeckt man auf einmal einen Bach, der einen im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr ruhig auf dem Stuhl sitzen lässt. Wie die einzelnen Stimmen sich dabei verhaken und wieder voneinander lösen, bringen diese Musiker Linien zum Vorschein, die früher nur als Füllsel galten und gar nicht als solche wahrgenommen wurden. Derart kühn und frech, wie hier mit furioser Spielfreude ein Feuerwerk entfacht wird, fragt man sich aber auch, wie es möglich sein konnte, dass Heerscharen von Musikern das Potential einer solchen Musik über eine so unendlich lange Zeit hinweg nicht erkannten. So unerhört neu, wie Alte Musik hier klingt, will es einem zuweilen sogar scheinen, als könne man alles, was nach ihr kam, zuerst einmal vergessen, vor allem jenes 19. Jahrhundert, in dem man nicht selten den Eindruck gewinnt, es handle sich um ein reichlich forciertes Klanggewoge, das mitunter umso öder wirkt, je mehr man zu merken glaubt, wie ergriffen es einen machen will.
Die historische Spielweise zeichnet sich zunächst einmal dadurch aus, dass man die Myriaden von willkürlich hinzugefügten Artikulationsangaben vergessen muss, die den barocken Partituren erst später hinzugefügt wurden. Schließlich findet sich in ihnen von der Romantik an kein einziger Takt mehr, der nicht mit Phrasierungsbögen, Pedalvorschriften, Staccatotupfern, Crescendo- und Decrescendo-Pfeilen, Forte- und Pianozeichen und sonst noch allerlei Humbug übersät worden ist. Dass Bach mit Franz Liszt nichts zu tun hat, schien man nicht nur nicht wahrhaben, sondern widerlegen zu wollen. Und obwohl beispielsweise Busoni in seinem 1916 erschienenen Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst das romantische Wallen und Schwallen weit hinter sich zu lassen gedenkt, erdrückt er Bachs Cembalowerke mit endlosen Anweisungen wie »Molto tranquillo e gravemente, serioso, sostenuto e sempre sottovoce«, gefolgt von ständig wechselnden Vorschriften wie »mormorando«, »dolcissimo sospiro« und »più cantabile«. Die Bässe verdoppelt er eh so gut wie immer, und auch im Diskant werden fast alle Akkorde verfettet, sodass seine Bach-Arrangements so aussehen, als handle es sich um Sonaten von Brahms.
Während bereits Beethoven, aber vor allem Komponisten wie Schumann und Mahler ihre Werke mit einer Unzahl von Vortragsanweisungen ausstaffieren, sehen Partituren aus der Barockzeit in dieser Hinsicht vollkommen karg und kahl aus. Der Ruf »Zurück zum Original!« kann deshalb nur heißen, dass man sich an den Handschriften orientiert und spätere Ausgaben ignoriert. Dass wir, wie etwa im Falle Händels, oftmals keine Autographe mehr besitzen, macht die Sache zwar nicht einfacher, doch auch nicht so kompliziert, dass man wie vor dem Nichts stünde, zumal bereits viel gewonnen ist, wenn man den ganzen Wust an später hinzugefügten Vortragsanweisungen einfach ausblendet. Weil wir über unsere klassisch-romantische Tradition allerdings nicht per Dekret hinwegsehen können, bleibt einem nur die Möglichkeit, deren Klangideale auf den Prüfstand zu stellen, was zuerst einmal heißt, dass wir sie nicht auf die Barockzeit anwenden. Wie sehr bis heute der Drang vorhanden ist, selbst Werke aus dem frühen 17. Jahrhundert in Wagnersche Klangwogen zu verwandeln, belegt Henzes Bearbeitung