Er zuckte mit den Schultern. Es schien ihm egal zu sein, wie er aussah. „Warte nicht auf mich“, murmelte er. „Ich muss noch ein paar Dinge klären. Das kann dauern.“
„Wer will mit einem, der sich in einer so jämmerlichen Verfassung befindet, etwas zu tun haben?“, fragte Katja. Und mit eindringlicher Stimme fuhr sie fort: „Was immer du vorhast, verschiebe es auf morgen.“
Norbert schüttelte störrisch den Kopf. „Es muss heute sein.“
„Dann begleite ich dich.“
„Du lässt mich allein gehen“, lallte Norbert Arndt mürrisch. „Ich bestehe darauf.“
„Und wohin gehst du, wenn ich fragen darf?“
„Das geht dich nichts an“, sagte er harsch und verließ das Haus. Allein, wie er es wollte. Katja trat ans Fenster und sah, wie er sich entfernte. Er konnte nicht gerade gehen, sondern schwankte deutlich sichtbar.
Das letzte Wort ist in dieser Sache noch nicht gesprochen, mein Lieber, dachte Katja trotzig. So schnell gebe ich nicht auf, und ich habe all die Mühsal in jüngster Vergangenheit auch nicht umsonst auf mich genommen. Das muss irgendwann Früchte tragen. Eher gebe ich mich nicht zufrieden.
39
Norbert Arndt torkelte die Straße entlang. Ein Mann kam ihm mit einem Hund entgegen. Das Tier knurrte ihn an. „Er mag keine Betrunkenen“, sagte Arndt. „Richtig so. Ich kann sie auch nicht ausstehen.“
Er wankte weiter. Sein Ziel war der nahe Bahndamm. Er kletterte die steile Böschung auf allen Vieren hoch und ging zwischen den Schienen auf den Schwellen. Wenn er Glück hatte, kam bald ein Zug. Es würde schnell gehen. Er würde nichts spüren.
Ich muss es tun, dachte er. Dr. Weißmann schafft es nicht, mich vor einem Rückfall zu bewahren, aber ich kann das. Katja ist ein Engel. Sie hat ein besseres Leben verdient als das an meiner Seite. Wenn sie sich nicht von mir trennen kann, muss ich mich von ihr trennen. Es muss Schluss sein. Unwiderruflich. Für immer. Keine Spielkarten und keine Wetten mehr. Keine Enttäuschungen mehr für Katja. Sie soll meinetwegen nie wieder unglücklich sein. Was ich heute tue, tue ich für dich, geliebte Katja, um dich von mir zu befreien, damit du endlich so glücklich werden kannst, wie du es verdienst.
Der Zug kam. Norbert Arndt hatte keine Angst vor ihm. Er ging ihm mit einem Lächeln auf den Lippen entgegen wie einem guten Freund. Die Schwellen unter seinen Füßen begannen zu vibrieren. Er dachte an Katja, an Jan Achberger und an Patrick Kress.
Bis vor Kurzem hatte es ihn noch rasend eifersüchtig gemacht, wenn er sich Kress an Katjas Seite vorgestellt hatte. Jetzt nicht mehr.
Das war vorbei. Er hoffte, dass die beiden nach seinem Tod zusammenkamen und glücklich wurden. Wenn er noch einen letzten Wunsch hätte äußern dürfen, dann wäre es dieser gewesen.
Das schrille Signal des Zugs sollte ihn von den Geleisen fegen, doch er ging unbeeindruckt weiter. Der Zugführer leitete eine aussichtslose Notbremsung ein.
Viele Tonnen schoben den Zug kraftvoll weiter vorwärts, auf den klein aussehenden Mann zu, der nicht im Traum daran dachte, sich in Sicherheit zu bringen.
Bremsen kreischten, Funken sprühten. Norbert Arndt blieb stehen, hob die Arme, streckte sie zur Seite und rief in den immer lauter werdenden Lärm hinein: „Katjaaa …! Ich liebe dich! Katjaaa!“
Dann war der Zug heran und an ihm, in ihm und über ihm …
40
Als die Polizei zu Dr. Katja Arndt kam, wusste sie sofort, dass ihr Mann nicht mehr lebte. „Ich hab’ noch was zu erledigen“, hatte er gesagt, bevor er das Haus verlassen hatte, und dann hatte er sich selbst „erledigt“, um seine Frau von sich zu befreien, ihr weiteren Kummer und noch mehr Sorgen zu ersparen und einen Neustart mit Patrick Kress zu ermöglichen. Bestimmt hatten seine Überlegungen so ausgesehen.
Habe ich irgendwie geahnt, was er vorhatte?, fragte sich Katja erschüttert. Habe ich es tief in meinem Innersten gewusst? Wieso habe ich ihn gehen lassen? Wieso habe ich ihn nicht zurückgehalten? Ich hätte es gekonnt. Er war schwer betrunken. Ich hätte ihn aufhalten können. Habe ich mich am Tod meines Mannes mit schuldig gemacht?
Sie war eingekreist von Selbstvorwürfen. Ihre Gedanken rasten durch ein finsteres Labyrinth, suchten verzweifelt nach einem Ausgang, konnten jedoch keinen finden, und die Folge davon war ein Nervenzusammenbruch, der sie in die Paracelsus-Klinik brachte.
Die Wirklichkeit wurde für sie zu einer glatten Scheibe, die jäh kippte. Katja hatte das Gefühl, zu stürzen und abzurutschen. Sie hatte keine Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten und den Fall in den irrealen Abgrund zu verhindern. Sie sauste über den Rand hinaus, hatte innerhalb weniger Augenblicke keinen Boden mehr unter sich, fiel, fiel, fiel und überschlug sich dabei ungezählte Male.
Dr. Härtling sagte etwas zu ihr, das sie nicht verstand. Es klang sanft und tröstend, und dann zog Dr. Härtling oder sonst jemand ein schwarzes Laken über ihr Gesicht. Sie sah nichts mehr, spürte nichts mehr, konnte nicht mehr denken, hörte auf, bewusst zu existieren …
Man hielt sie zwei Tage in einem schützenden Dämmerzustand und holte sie dann behutsam wieder an die Oberfläche des bitteren Bewusstseins.
Dr. Härtling verbrachte sehr viel Zeit bei ihr, und wenn er anderweitig unabkömmlich war, kümmerte sich Schwester Annegret um sie. Katja war nie allein, hatte immer jemanden bei sich, mit dem sie reden, bei dem sie abladen konnte, was ihr tonnenschwer auf Geist und Seele drückte.
„Weiß es meine Mutter schon?“, fragte sie, als wieder einmal der Klinikchef bei ihr war. „Irgend jemand muss es ihr sagen.“
„Das hat Ihr Bruder bereits getan“, sagte Sören Härtling.
„Wie hat sie’s aufgenommen?“
„Sie war sehr traurig.“
„Hat sich ihr Zustand nicht wieder verschlechtert?“
Dr. Härtling schüttelte den Kopf. „Ihr Zustand ist stabil geblieben.“
Katja strich mit der Hand fahrig über die Bettdecke. „Wieso ist das Schicksal manchmal so grausam?“
„Alles hat irgendwo seinen übergeordneten Sinn, sagt man“, erwiderte der Klinikchef. „Der Mensch ist bloß zu klein, um ihn zu erkennen.“
41
Drei Tage nach Norberts Beerdigung erschien Dr. Katja Arndt wieder zum Dienst in der Paracelsus-Klinik. Sie musste arbeiten, um sich abzulenken, um den Kreislauf ihrer tristen Gedanken zu unterbinden, und um das Gefühl zu haben, zu etwas nütze zu sein.
Eifrig und engagiert kümmerte sie sich um die ihr anvertrauten Patienten und stellte ihr persönliches Seelenleid hintan. Nichts war ihr wichtiger als für andere Menschen da zu sein, ihnen zu helfen und zu spüren, dass sie gebraucht wurde. Doch der Alptraum war für sie noch nicht zu Ende …
Als sie die Klinik nach zwölf Stunden kräfteraubender Arbeit verließ, trat ihr plötzlich ein Mann in den Weg. Ein schleimiger Mittvierziger mit Basedowaugen, Gold im Mund, um den Hals und an den Fingern Jan Achberger.
„Hallo, Frau Doktor“, sagte er mit übertriebener Freundlichkeit. „Wie geht es Ihnen?“
Sie antwortete nicht, starrte den Blutsauger feindselig an.
„Die Sache mit Ihrem Mann tut mir leid“, behauptete Achberger. „Ehrlich. Man ist schließlich kein Unmensch.“ Er nickte, als wäre er mit dem, was er gesagt hatte, sehr einverstanden. „Ich bedaure auch außerordentlich, dass ich auf Ihren Schmerz keine Rücksicht nehmen kann“, fuhr er mit betrübter Miene fort. „Ich bin Geschäftsmann und lebe nicht vom Draufzahlen. Ich muss sehen, wie ich mein Geld