Katja, zehn Jahre älter, bemühte sich um Stärke und Zuversicht. „Sie wird nicht sterben“, versicherte sie leise. „Sie wird leben.“
„Ich dachte schon, sie wäre tot“, schluchzte Jürgen. „Als sie so regungslos auf dem Boden lag, war mir, als würde ich den Verstand verlieren.“ Er löste sich von seiner Schwester und starrte sie mit tränennassen Augen an. „Das ist alles Cornelius Eichingers Schuld“, stieß er hasserfüllt hervor. „Wenn der Mistkerl mir unter die Augen kommt, schlage ich ihm den Schädel ein.“
Katja strich ihm mit der Hand das Haar aus der Stirn. „Du wirst ihn in Ruhe lassen“, sagte sie streng. „Er ist es nicht wert, dass man sich an ihm die Finger schmutzig macht.“
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Es war auch für Norbert Arndt ein Schock, als seine Frau ihm erzählte, was seiner Schwiegermutter zugestoßen war, und auch er stieß wüste Verwünschungen und aggressive Drohungen gegen den pensionierten Beamten aus.
Dass Katja bis auf weiteres keinen „Flamingo“-Job übernehmen konnte, verstand sich von selbst, doch es war ihr absolut unwichtig, dass sie vorläufig kein Geld verdiente.
Sie wäre in diesen Tagen eine schlechte Gesellschafterin gewesen, da ihre Gedanken fortwährend um ihre kranke Mutter kreisten.
„Das mit deiner Mutter tut mir sehr leid“, sagte Gabi Hauff mit aufrichtigem Mitgefühl, als Katja
sie anrief und ihr erklärte, sie müsse vorübergehend pausieren. „Ich hoffe, es geht ihr bald wieder besser.“
„Danke, Gabi.“
„Wenn ich irgendetwas für dich tun kann …“
„Ich wüsste nicht, was.“
„Das hat indirekt dieser Dreckskerl zu verantworten“ , sagte Gabi Hauff mit unverhohlener Feindseligkeit.
„Ich werde dafür sorgen, dass er in Zukunft seine Finger von meiner Mutter lässt“, kam es hart über Katjas Lippen.
„Es gibt mehr Irre als Bürgermeister auf dieser Welt.“
„Da sagst du was.“
„Vielleicht findet er irgendwo eine Gleichgesinnte, die er glücklich machen kann“, sagte die Agenturchefin zynisch. „Ruf mich an, wenn du wieder für mich arbeiten möchtest. Bis dahin alles Gute.“
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Am zweiten Tag kam Charlotte Möhner zu sich. Sie war verwirrt, halbseitig gelähmt und konnte nicht sprechen, aber sie bekam einigermaßen mit, was man ihr sagte. Es war sehr wichtig, dass im Anschluss an die akute Phase sofort mit der Rehabilitation der Patientin begonnen wurde, um nach Möglichkeit die volle Mobilität der gelähmten Körperhälfte wiederherzustellen. Da ein möglichst frühzeitiger Behandlungsbeginn von entscheidender Bedeutung war, wurde für die Patientin unverzüglich ein effizientes bewegungstherapeutisches Programm zusammengestellt, das langsam und schrittweise abgewickelt werden musste.
Da der Mensch erwiesenermaßen nur einen Teil seines Gehirnvolumens nützt, können zerstörte Nervenzellen sehr oft durch andere ersetzt werden, wodurch die ursprünglich gelähmten Extremitäten wieder ihre volle Funktion zurückerhalten. Darauf arbeitete man auch bei Charlotte Möhner hin.
Am dritten Tag erschien Cornelius Eichinger mit einem kleinen, billig aussehenden Blumenstrauß in der Paracelsus-Klinik, um Charlotte Möhner zu besuchen. Der Zufall wollte es, dass Dr. Katja Arndt ihm auf dem Flur begegnete. Sie hatte Lust, ihm die Blumen aus der Hand zu schlagen, konnte sich nur mühsam beherrschen.
„Wie geht es Charlotte?“, erkundigte sich der Mann.
„Nicht sehr gut“, gab Katja kühl zur Antwort, „aber sie befindet sich auf dem Wege der Besserung.“
Cornelius Eichinger stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Dem Himmel sei Dank. Darf ich zu ihr?“
Katja schüttelte entschieden den Kopf. „Auf gar keinen Fall.“
„Wieso musste ich von Charlottes Nachbarin erfahren, was passiert war?“, fragte Eichinger befremdet. „Warum haben Sie mir nicht Bescheid gesagt?“
„Warum hätte ich das tun sollen?“, fragte Katja frostig zurück.
Der Mann schien sich ihre abweisende Haltung nicht erklären zu können. „Ich bin mit Ihrer Mutter immerhin seit einigen Wochen sehr eng befreundet“, sagte er fahrig.
Sie maß ihn mit abschätzigem Blick. Noch nie hatte ein Mensch so viel Abscheu in ihr hervorgerufen. „Was tun Sie, wenn Sie nicht mit meiner Mutter zusammen sind?“
„Ich verstehe Ihre Frage nicht.“
„Sie scheinheiliger Pharisäer …“
„Was erlauben Sie sich?“, brauste er auf.
„Wissen Sie wirklich nicht, wovon ich rede?“
„Was soll dieser aggressive Ton?“
„Seien Sie froh, dass ich Sie nicht in aller Öffentlichkeit ohrfeige“, zischte Katja Arndt.
Eichinger riss die Augen auf. „Sind Sie verrückt geworden?“
„Sie werden meine Mutter nicht wiedersehen“ , sagte Katja scharf. „Ist das klar?“
„Sie können wirklich nicht bei Trost sein“, entrüstete sich Cornelius Eichinger. „Das geht doch wohl nur Charlotte und mich etwas an.“
„Der Schlaganfall, den Mutter erlitten hat, geht auf Ihr Konto“, fuhr Katja ihn an.
„Ich begreife nicht, wie man jemanden wie Sie auf kranke Menschen loslassen kann.“ Eichinger tippte sich an die Stirn. „Bei Ihnen müssen hier oben ein paar Schrauben locker sein.“
Katjas Augen wurden schmal. „Wollen wir herausfinden, bei wem mehr Schrauben locker sind? Bei Ihnen oder bei mir!“
„Ich verbitte mir diesen impertinenten Ton“, fauchte Eichinger gereizt.
Katjas Blick wurde feindselig und eisig. „Ich sage nur Biggi! Biggi Ruprecht!“
Er zuckte heftig zusammen, wurde blass und verfiel. „Was wissen Sie …“
„Alles.“ Ein wildes Triumphgefühl durchtobte sie. Es tat unendlich gut, zu sehen, wie sehr sie ihn aus der Fassung gebracht hatte. „Ich weiß alles, und deshalb rate ich Ihnen, auf der Stelle zu verschwinden und sich nie mehr in der Nähe meiner Mutter blicken zu lassen. Machen Sie, dass Sie fortkommen!“
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Nach zwei Wochen kam Charlotte Möhner in eine Rehabilitationsklinik. Man hatte in der Paracelsus-Klinik ihr tägliches Training mit einfachsten passiven Bewegungen begonnen, um eine Versteifung der Gelenke zu verhindern, und sobald die ersten Anzeichen eines spontanen Bewegungsvermögens vorhanden gewesen waren, hatte man diese Eigenbeweglichkeit sukzessive ausgebaut. Nun gewöhnte man sie in der Reha-Klinik an Bewegungen im Stehen und leitete schließlich zu Gehübungen mit Hilfe von Krücken über.
Die Patientin befand sich dabei zuerst auf einer ebenen Fläche vor einem Spiegel, um die eigenen Bewegungen kontrollieren zu können, und stieg in der weiteren Folge einige Stufen hinauf und hinunter.
Die Rehabilitation ihres Armes lief im Großen und Ganzen genauso ab, mit Ausnahme der Handbewegungen, die auf Grund ihrer Feinmotorik eine gesonderte Behandlung erforderlich machte. Sie lernte auch wieder sprechen, und die Worte kamen von Mal zu Mal deutlicher aus ihrem Mund.
Katja Arndt nahm ihre Tätigkeit bei „Flamingo“ wieder auf. Sie versuchte Versäumtes nachzuholen und wieder Geld zu scheffeln für Jan Achberger, doch inzwischen wusste sie,