Der Kaiser. Geoffrey Parker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Geoffrey Parker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783806240108
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Geleitbrief und eine große Bühne zur Verfügung zu stellen, brachte dem Papsttum ein wahres PR-Desaster ein –, hatte der Kaiser doch eigentlich keine Wahl: Rein rechtlich betrachtet, war Karl durch die Wahlkapitulation, die er in Aachen gerade erst bestätigt hatte, nicht nur verpflichtet, die Ansichten der Kurfürsten zu beherzigen, sondern ebenso, deren Untertanen gegen die Anklage vor einem ausländischen Gericht zu schützen. Folglich konnte er das förmliche Ersuchen des sächsischen Kurfürsten, Luther dürfe nicht verurteilt und nach Rom geschickt werden, ohne zuvor in Deutschland angehört zu werden, kaum abweisen.54 Im Februar 1521 ging Karl dann – vielleicht von Erasmus ermutigt – noch weiter. Er entsandte seinen Beichtvater, Jean Glapion, der Friedrich den Weisen davon überzeugen sollte, Luther müsse zumindest einige seiner Thesen widerrufen, damit die hochriskante Konfrontation auf dem Reichstag nicht völlig eskalieren werde. Da der Kurfürst es jedoch ablehnte, einen einfachen Mönch zu empfangen, sprach Glapion bei Friedrichs Kanzler vor, Dr. Gregor Brück. Diesem legte er dar, dass er »bis zur Veröffentlichung der Abhandlung von der ›babylonischen Gefangenschaft der Kirche‹ … überzeugt gewesen war, dass Bruder Martin ein hehres Ziel verfolgte – das Ziel einer umfassenden Kirchenreform, durch welche die Übel abgestellt würden, die unsere Kirche viel zu lange schon befleckt und geschädigt haben. Außerdem hat [Luthers] mutiges Vorbild den Glaubenseifer und die Unterstützung zahlreicher redlicher Leute erweckt.« Glapion versprach in Karls Namen, dass Luther, wenn er nur die in der Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae vertretenen Positionen widerrufe oder seine Autorschaft bestreite, keine Strafverfolgung zu fürchten habe und, »sofern er dabei diskret und im Stillen vorgeht, nützliche Reformen« weiterhin vorantreiben könne. Auch versicherte er Brück, es sei »die feste Überzeugung des Kaisers, dass ein solch bedeutender Mann unbedingt mit der christlichen Kirche versöhnt« werden müsse. Anfang April unternahm Glapion einen zweiten Anlauf, indem er sich mit einer Gruppe von Unterstützern Luthers traf, um über die Schaffung eines etwas privateren Rahmens zu verhandeln, in dem der eigensinnige Augustiner zumindest einige Thesen widerrufen und die angespannte Lage dadurch würde entschärfen können. Dieser Vorschlag scheiterte jedoch daran, dass Luther sich auf keinen Fall die Chance entgehen lassen wollte, seine Ansichten auf der öffentlichen Bühne zu vertreten, die ihm der Reichstag bieten sollte.55

      Hinter all diesen bemerkenswerten Initiativen standen letztlich politische Erwägungen. Auf der Ebene der Reichspolitik konnte Karl die breite Zustimmung, die Luthers Auffassungen vonseiten mancher der auf dem Reichstag vertretener Fürsten und Städte zuteilgeworden war, schlichtweg nicht ignorieren: Wenn er Luther festnehmen und ohne Anhörung nach Rom schicken ließe, riskierte er einen weiteren großen Aufstand, zu dessen Niederschlagung ihm – angesichts der in Spanien noch wütenden Rebellionen – ganz einfach die Mittel fehlten. In außenpolitischer Hinsicht munkelte man, der Papst sehe die italienischen Ambitionen Franz’ I. mit Wohlwollen und habe mit diesem auch schon ein Bündnis geschlossen, sodass ein Papstkritiker wie Luther sich (wie der Botschafter Juan Manuel schon früh gesehen hatte) mittelfristig als politischer Verbündeter erweisen konnte. Als Aleandro im März 1521 Chièvres »ermahnte … sich umgehend der Niederschlagung und Ausmerzung jener abscheulichen Irrlehre zu widmen«, schoss der Markgraf zurück: »Sorgt Ihr nur dafür, dass der Papst seine Pflicht tut und ehrlich mit uns umgeht. Dann werden wir alles tun, was Seine Heiligkeit wünscht.« Aber Aleandro blieb hartnäckig, und also wurde Chièvres heftiger: »Sobald Euer Papst aufhört, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen, wird er alles bekommen, was er von uns nur verlangen kann; andernfalls jedoch werden wir ihm so viele Unannehmlichkeiten bereiten, dass es ihm schwerfallen wird, noch einen Ausweg zu finden.« Aleandro musste erkennen, dass, »seitdem der Kaiser in Köln mit dem Kurfürsten von Sachsen gesprochen hat«, seine Minister »unentwegt versucht haben, sich diese Luther-Sache zunutze zu machen (servirsi dell cose di Martino)«. Als der päpstliche Legat Chièvres ein drittes Mal zur Rede stellen wollte, »lächelte [dieser] und sagte, er glaube nicht, dass Luther sich so schwer zum Schweigen bringen ließe« – worauf Aleandro bissig erwiderte, ohne eine zügige Reaktion seitens des Kaisers würden sie »einen Flächenbrand sehen, den alles Wasser in Eurer Nordsee nicht wird löschen können«.56

      Karl hatte noch einen weiteren praktischen Grund, von einer Umsetzung der Bulle Exsurge Domine vorerst abzusehen: Diese »Luther-Sache« war nur eines von vielen Problemen, die im Reich einer Lösung harrten. Auf dem Wormser Reichstag sollten mehr als einhundert verschiedene Punkte diskutiert werden, von Wucherzinsen und Monopolen über exzessiven Luxus bis hin zu »weitschweifigen und weit hergeholten Gesetzestexten«, die das einfache Volk nicht mehr verstehen könne (das Ausmaß der in Deutschland verbreiteten Abneigung gegenüber dem »Römischen Recht«, das zu jener Zeit das alte Gewohnheitsrecht zunehmend verdrängte, lässt sich kaum übertreiben). Wie Karl in den Niederlanden und in Spanien schon hatte feststellen müssen, bedurfte es zur Überzeugung jeder großen Versammlung, die sich mit derart heiklen Fragen zu befassen hatte, eines erheblichen Taktgefühls, großer Geduld und Nachsicht. Er gab sich deshalb alle Mühe, sämtliche Beteiligten bei Laune zu halten. Am Eröffnungstag des Reichstags besuchte der Kaiser gemeinsam mit den Delegierten die heilige Messe und im Anschluss »sprach er ein paar kurze Worte auf Deutsch« (die erste belegte Gelegenheit, bei der er dies tat). Über die nächsten vier Monate hinweg beriet der Kaiser sich regelmäßig mit den Kurfürsten und besuchte gemeinsam mit anderen wichtigen Teilnehmern des Reichstags den Gottesdienst, ging mit ihnen auf die Pirsch oder auf die Beizjagd – alles auf der Suche nach einer gemeinsamen Basis.57

      Die Reformation als Ritterturnier

      Aleandro gab sich alle Mühe, diese Harmonie zu stören. In seinem Bestreben, Luthers sofortige Verurteilung herbeizuführen, legte der Legat dem Kaiser einen Entwurf für ein Edikt vor, durch das die Reichsacht über Luther verhängt werden sollte. Karl tat vorerst jedoch nichts dergleichen, sondern lud »de[n] ersamen unsern lieben andechtigen doctor Martin Luther, Augustiner Orden« nach Worms, wo dieser binnen drei Wochen zu erscheinen hatte. Auch ließ der Kaiser den versprochenen Geleitbrief ausstellen, und so dauerte es nicht mehr lange, bis am 17. April »um die Zeit der Vesper, also gegen vier Uhr nachmittags«, Luther vor Karl und dem versammelten Reichstag auftrat. Noch mehr als ein Jahrzehnt danach konnte sich ein Augenzeuge bestens an das Gefühl allgemeiner Aufregung erinnern, das damals geherrscht hatte: »Als Luther höchstpersönlich kam, strömte alle Welt herbei, um ihn zu sehen.«58 Der Reichstag selbst hatte über hundert Teilnehmer, dazu kamen zahlreiche weitere auswärtige und deutsche Würdenträger, Angehörige des kaiserlichen Hofes (darunter auch der künftige Großinquisitor Fernando de Valdés) und Zuschauer aus dem Volk – alles in allem ergab sich so ein Publikum von etwa tausend Personen. Karl saß auf einem Podest in dem großen Saal Luther gegenüber, der »den Habit eines Augustinermönches mitsamt dem dazugehörigen Ledergürtel« trug; mindestens einem Augenzeugen erschien Luther »sehr hochgewachsen, größer als die meisten Leute«. Man hätte im Saal eine Stecknadel fallen hören können, als Johannes Eck, der als »Sprecher des Kaisers und des Reichstages« auftrat, sich von seinem Platz erhob, um eine Liste angeblich von Luther verfasster Schriften mitsamt kurzen Inhaltsangaben zu verlesen. Von einem Zwischenruf des frechen »Bruder Martin« – »Ihr habt ja gar nicht alle meine Bücher erwähnt!« – ließ Eck sich nicht beirren, sondern stellte dem Mönch stattdessen zwei Fragen, die Aleandro formuliert hatte und die Luther bereits vorab mitgeteilt worden waren: Hatte Luther all die Schriften verfasst, deren Titel und Inhalt gerade verlesen worden waren? Und wenn ja, »wollt Ihr [diesen Inhalt] noch einmal überdenken oder Euch von Euren Schriften – als von etwas Widersinnigem und Ketzerischem – distanzieren?« Nachdem er »seine Treue dem Kaiser gegenüber beschworen« hatte, antwortete Luther zunächst in lateinischer Sprache und dann noch einmal auf Deutsch, »wobei sein Gesicht und seine Gesten Anspannung und Unbehagen erkennen ließen: Was den ersten Punkt betreffe, [antwortete er,] dass diese Bücher die seinen seien; was aber den zweiten Punkt betreffe, so erbat er sich Bedenkzeit bis zum folgenden Tag.« Damit hatte Karl wohl nicht gerechnet, und so »zog er sich mit seinem Geheimen Rat an einen anderen Ort zurück«, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Nach ihrer Rückkehr wandte sich Eck erneut an Luther:

      »Die Frage, die man ihm gestellt habe, betreffe bedeutende Dinge, die er selbst getan habe und von denen er doch wissen müsse, und deshalb solle er jetzt sofort antworten und nicht noch weiteren Aufschub verlangen;