Die Zeremonie endete mit der feierlichen Verkündigung, dass »der Papst, der die Wahl Karls des Fünften bestätigt hat, anordnet, dieser möge von nun an den Titel ›Kaiser‹ tragen«. Auf den Vorschlag Gattinaras hin erweiterte Karl seine Titulatur zu jener Form, die er für den Rest seiner Regierungszeit beibehalten sollte: »Seine heilige, kaiserliche, katholische und königliche Hoheit«. Als Nächstes unterzeichnete Karl in Rücksprache mit den Kurfürsten ein Dokument, mit dem er die Vertreter aller Reichsstände für den Januar des folgenden Jahres zu einem Reichstag in der Stadt Worms zusammenrief. »Dies war das erste Mal, dass ich nach Deutschland gekommen und den Rhein hinaufgereist bin«, hielt er später in seinen Erinnerungen fest – und fügte lakonisch hinzu: »Zur selben Zeit begann auch die Irrlehre des Luther, sich in Deutschland auszubreiten.«45
Im November 1519 erließ die theologische Fakultät der Universität Löwen eine förmliche Verurteilung der Schriften »eines gewissen Martin Luther«, eines Augustinermönchs, der an der Universität Wittenberg im Kurfürstentum Sachsen lehrte. Eine Abschrift ihres Schriftsatzes sandten die Löwener Professoren zusammen mit einigen von Luthers Veröffentlichungen auch an ihren früheren Kollegen Adrian von Utrecht, der inzwischen als Großinquisitor für ganz Spanien amtierte. Adrian sah diese Papiere durch und kam zu dem Schluss, dass sie mehrere »unübersehbare Häresien« enthielten. Er ordnete deshalb an, Luthers Werke zu verbrennen und ihren Verfasser seiner häretischen Ansichten wegen zur Rechenschaft zu zwingen.46 Da Adrian ebenso wie Karl zu jener Zeit in Katalonien residierte, ist es nicht auszuschließen, dass sie gelegentlich über Luther und sein Treiben gesprochen haben könnten; falls dem so war, scheint jedoch keine Spur einer solchen Unterredung erhalten zu sein. Ansonsten könnte Karl dem Namen des Wittenberger Reformators zuerst in einem Brief begegnet sein, den ihm sein Botschafter in Rom, Juan Manuel, am 12. Mai 1520 schrieb. Dieser berichtete, in Rom halte man Luther »für einen großen Gelehrten, und er hat den Papst gehörig beunruhigt«. Daher könne der Kaiser, »falls der Papst sich einer Allianz verweigere oder erst eine abschließe und sie dann nicht einhalte«, durchaus »diesem Bruder Martin, wie er genannt wird, ganz heimlich eine gewisse Gunst erweisen«.47
Im Monat darauf verdammte Papst Leo X. in seiner Bulle Exsurge Domine (»Erhebe Dich, o Herr!«) Luthers Ansichten auf das Schärfste und ordnete an, dessen Schriften zu verbrennen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der »Bruder Martin« immerhin schon mehrere polemische Schriften in lateinischer Sprache veröffentlicht, in denen er die Lehrmeinungen und Praktiken der Päpste, insbesondere den Ablasshandel, kritisierte. Im August 1520 jedoch publizierte er dann eine höchst folgenreiche Abhandlung auf Deutsch: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. Darin jubilierte Luther: »Gott hat uns ein junges edles Blut zum Haupt geben« – gemeint war Karl – und rief den Kaiser auf, »des andern Tages seiner Krönung« (also gleich am Tag danach) Maßnahmen zu ergreifen, um die Reinheit der christlichen Lehre wiederherzustellen, selbst wenn das bedeuten sollte, sich gegen den Papst zu stellen.48 Zwei Monate darauf legte Luther eine sogar noch aggressivere Streitschrift vor, die den Titel De captivitate Babylonica ecclesiae (»Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche«) trug. Es handelte sich dabei um eine exegetische Untersuchung zur Sakramentenlehre, die zugleich eine wütende Attacke auf den Papst enthielt, der von Luther nun gar als »der Antichrist« tituliert wurde. Kurz darauf überreichte der päpstliche Sondergesandte Girolamo Aleandro dem Kaiser ein Exemplar der Bulle Exsurge Domine und trug ihm im Namen Papst Leos auf, die Schriften Luthers verbrennen zu lassen und Luther selbst entweder zu einem öffentlichen Widerruf zu zwingen oder ihn nach Rom zu schicken, damit er sich dort erkläre.
Zunächst zögerte Karl. Immerhin hatte er im März 1518 eine Anordnung erlassen, die »bis auf unseren anderslautenden Befehl« in den gesamten Niederlanden jegliche »Erlassungen und Ablassbriefe, die von außerhalb unseres Herrschaftsgebietes hierhergebracht worden sind oder noch hergebracht werden mögen«, rundweg verbot – und dieses Verbot war ja genau das, wofür Luther sich in seinen 95 Thesen ausgesprochen hatte. Als Karl im Juni 1520 in seine Heimat zurückkehrte, war, wie ein Augenzeuge berichtete, »Seiner Majestät Hof voll« von Luthers Schriften, denn »solange Luther sich auf die Kirchenreform beschränkte und über den moralischen Verfall nur sich äußerte … nahm niemand Anstoß an dem, was er zu sagen hatte«.49 Dennoch: Als Karl sich dann im Herbst 1520 in der Universitätsstadt Löwen aufhielt, ließ dort am 8. Oktober, ganz in Übereinstimmung mit der Bulle Exsurge Domine, die Obrigkeit Luthers Werke auf einem großen Scheiterhaufen öffentlich verbrennen. Zwar ist bislang keine Anweisung Karls zu diesem Vorgang bekannt geworden, doch kann er unmöglich ohne das Wissen und die Billigung des Kaisers stattgefunden haben.
Exsurge Domine war beileibe kein fehlerfreies Dokument. Die Bulle führte ganz detailliert 41 Fehler in Luthers bisherigen Veröffentlichungen auf, schien dann aber (wie der bedeutende Reformationshistoriker Hans Hillerbrand bemerkt hat), »bald alle Schriften Luthers zu verdammen, dann wieder nur jene, die einen der genannten 41 Fehler enthielten«. Außerdem »wurden Luthers Aussagen in zwölf der 41 Thesen nicht korrekt wiedergegeben«.50 Diese Kombination von Intoleranz und Ignoranz rief zahlreiche katholische Intellektuelle aus ganz Europa auf den Plan, darunter auch einen von Karls angesehensten Ratgebern: Erasmus von Rotterdam. Kurz nach der Buchverbrennung von Löwen beschwerte Erasmus sich beim Rektor der dortigen Universität:
»Nie habe ich die derartige Unterdrückung eines einzelnen Mannes gutgeheißen und werde das auch nie tun: durch öffentlichen Aufruhr, bevor seine Bücher überhaupt gelesen und diskutiert wurden, bevor man ihm seine Fehler aufgezeigt hat, bevor er mit Argumenten und mit Beweisen aus der Heiligen Schrift widerlegt worden ist … Die Verbrennung seiner Bücher mag Luther aus unseren Bibliotheken vertreiben; ob man ihn so auch aus den Herzen der Menschen reißen wird, wage ich zu bezweifeln.«51
Bald darauf teilte Erasmus seine Bedenken auch einer wesentlich bedeutenderen Persönlichkeit mit: dem sächsischen Kurfürsten Friedrich, genannt »der Weise«, seines Zeichens Gründer und Patron der Wittenberger Universität, an der Luther lehrte. Am 4. November 1520 überreichte Aleandro Friedrich ein Exemplar der Bulle Exsurge Domine und schon am Tag darauf, gleich nach seiner gewohnten Morgenandacht, rief der fromme, aber irritierte Kurfürst Erasmus zu sich und fragte ihn, wie er darauf nun reagieren solle. Offenbar wiederholte der Gelehrte auch Friedrich gegenüber seine Ansicht, dass Luther und seine Schriften nicht ohne Anhörung verdammt werden sollten, denn kurz darauf gab Friedrich bekannt, es sei »noch keineswegs sicher, dass Luther eine solche Behandlung überhaupt verdiene und dass diese Frage daher bis zum Reichstag in Worms zurückgestellt werden solle«.52
Die kaiserliche Haltung Luther gegenüber blieb zwiespältig. Am 12. November ließen die Stadtoberen von Köln Luthers Werke verbrennen, während Karl sich in der Stadt aufhielt. Zwei Wochen darauf wies der Kaiser jedoch den sächsischen Kurfürsten an, Luther zum Reichstag in Worms mitzubringen, und versprach diesem nicht nur freies Geleit, sondern auch eine Gelegenheit, seine Ansichten öffentlich zu widerrufen. Aleandro war das Risiko eines solchen Zugeständnisses sofort bewusst: »Wenn Luther nun aber nicht widerruft und seines freien Geleits wegen auch nicht bestraft werden kann«, sagte er voraus, »so wird dies die ganze Welt in Unordnung stürzen.« Er suchte daher, Karl und seine führenden Ratgeber noch zu einem Kurswechsel zu bewegen, aber vergebens: Chièvres, teilte Aleandro mit, lehne dies mit der Begründung ab, dass »der Kaiser ein wahrhaft katholischer Fürst« sei, auf dessen rechtes Handeln man vertrauen könne. Gattinara ging sogar noch weiter,