Welche politische Haltung ukrainische Rotarmisten und Zivilisten aus Gebieten östlich des Generalgouvernements ins Lager mitbrachten, lässt sich schwer sagen. Bei den mehr als 1 000 jungen Ukrainern, die Streibel 1943 im Generalgouvernement rekrutierte, dürfte ideologische Zuverlässigkeit eine Rolle gespielt haben, denn ukrainische Hilfspolizisten hatten bereits seit 1941 am Judenmord mitgewirkt und Massendeportationen im Distrikt Galizien mit durchgeführt.124
Die soziale Herkunft der Trawniki-Männer ist noch nicht hinreichend erforscht. Unter den Rotarmisten der ersten Rekrutierungswelle waren Angehörige des sowjetischen ›Mittelstandes‹. Bald dominierten jedoch junge Leute vom Land, die nur über eine geringe formale Bildung verfügten und vor ihrer Gefangennahme oder Zivilrekrutierung einfache Tätigkeiten ausgeübt hatten.125 Dieses aus dem Selbstschutz und der ukrainischen Hilfspolizei bekannte Muster erhöhte das Gefälle zwischen sowjetdeutschen Unterführern und ihren Untergebenen.
3.3.3Aufstellung und Ausbildung
Die Sollstärke des Ausbildungslagers betrug 1 000 Mann in zwei Bataillonen. Im März 1942 waren 1 250 Wachmänner im Lager, die sich auf acht Kompanien und einen Unterführerlehrgang verteilten. Da kaum zeitgenössische Dokumente vorliegen, ist nicht sicher, ob tatsächlich zwei Bataillone aufgestellt wurden. Falls dies der Fall war, kommen als Kommandeure nur die deutschen Untersturmführer Willi Franz und Johannes Schwarzenbacher in Betracht, wobei zunächst Franz das 1. Bataillon und Schwarzenbacher das 2. Bataillon geführt haben dürfte. Ab Mai 1942 führte hingegen Schwarzenbacher das 1. Bataillon und fungierte zugleich als Stellvertreter Streibels.126 Schwarzenbacher, der wie Streibel aus dem Volksdeutschen Selbstschutz nach Trawniki gekommen war, wurde von Globocnik als in »Banditen[und] Judenaktionen bestens bewährt« hochgeschätzt und ging, gegen den ausdrücklichen Wunsch des SS-Personalhauptamtes, mit ihm nach Triest.127
Jedes Bataillon hatte drei oder wahrscheinlicher vier Kompanien à jeweils rund 120 Mann. Demnach gehörten dem 1. Bataillon die 1. – 4. Kompanie und dem 2. Bataillon die 5. – 8. Kompanie an. Einige Kompanieführer sind namentlich bekannt; meist ist aber nicht klar, wer wann welche Kompanie unter sich hatte. Führer der 1. Kompanie war vermutlich zunächst Franz, der im März 1942 die 4. Kompanie kommandierte. Schwarzenbacher führte zu dieser Zeit die 3. Kompanie, SS-Unterscharführer Kurt Reinberger die 6. Kompanie.128 Weitere Unterführer waren SS-Männer aus Globocniks Stab und Schutzpolizisten des Kommandeurs der Ordnungspolizei im Distrikt Lublin.129 Die Kompanien gliederten sich in je drei Züge und vermutlich sechs Gruppen.130
Einschließlich der Verwaltung, deren Personal überwiegend der SS-Standortverwaltung Lublin angehörte, waren nur etwa 50 Reichsdeutsche im Lager. Im Sommer 1942 waren die zwei Bataillone auf Sollstärke aufgefüllt und weitere 1 500 Wachmänner befanden sich im auswärtigen Einsatz.131 Im Februar 1943 war das Lager hingegen bis auf einige Hundert Rekruten leer, was den wachsenden Personalbedarf der Zwangsarbeitslager verdeutlicht. Zieht man weiter in Betracht, dass nicht wenige Wachmänner drei und mehr Außenkommandos durchliefen, wird klar, dass das Lager Trawniki zwei Funktionen erfüllte: Es war Ausbildungsstätte für neue Rekruten und Unterführer sowie Verteilerstelle für Außenkommandos, zu denen die Wachmänner abkommandiert wurden.
Im Ausbildungslager stellten 1942/43 Reichsdeutsche die Zugführer, als Gruppenführer kamen möglicherweise auch Sowjetdeutsche zum Einsatz. Die Ausbilder waren überwiegend Reichsdeutsche, aber zumindest in der Anfangszeit kamen auch militärisch ausgebildete Russlanddeutsche zum Zug. Im Herbst 1941 scheinen die Kompanie- und Zugführer häufig ausgewechselt worden zu sein.132 Polizeimeister Albert Drechsel leitete seinerzeit die Ausbildung der Rekruten. Er wechselte später in die Geschäftsstelle des Lagers.133 Sobald genug Rekruten anwesend waren, wurden acht anfänglich noch unterbesetzte Kompanien aufgestellt.134
Es gibt Hinweise, dass in die 1. Kompanie vorzugsweise Sowjetdeutsche aufgenommen wurden, wie das auch Himmler als Ideal eines Schutzmannschafts-Bataillons vorschwebte. Aus dieser 1. Kompanie seien die Ausbilder späterer Rekruten hervorgegangen:
»Die Gruppe von etwa 15 – 20 Volksdeutschen, mit denen ich nach Trawniki gekommen war, wurde abgesondert von einer anderen Gruppe Volksdeutscher ausgebildet, die etwa 60 Mann stark und schon vor uns in Trawniki war. Später, um die Weihnachtszeit 1941, kamen noch etwa 100 Russen [gemeint vermutlich: Ukrainer] hinzu, die ihrerseits wieder von den vorgenannten Volksdeutschen mit ausgebildet wurden. Die wesentliche Tätigkeit der Volksdeutschen bestand darin, den Russen die Kommandos, die in deutscher Sprache gegeben wurden, in russischer Sprache zu übermitteln.«135
Ein ehemaliger ukrainischer Wachmann, der im September oder Oktober 1941 nach Trawniki kam, berichtet von der 1. Kompanie (»Rotte«) als derjenigen, die sich anfänglich als »Kampftruppe« oder »Bautruppe« aus besser gekleideten und ausgerüsteten Rekruten zusammengesetzt habe. Die drei Züge dieser Kompanie seien von Sowjetdeutschen geführt worden; die Gruppen darunter hätten ebenfalls Sowjetdeutschen oder Ukrainern unterstanden.136
Seit September 1941 Jahres wurden vermehrt Juden und sowjetische Kriegsgefangene im Distrikt Lublin erschossen. Über die Heranziehung von Trawniki-Männern zu diesen Aktionen ist bislang nichts bekannt geworden.137 Es gibt aber deutliche Hinweise, dass ein Teil der 1. Kompanie um diese Zeit wiederholt als »Vernichtungskompanie« zu auswärtigen Einsätzen kommandiert wurde.138
Die 4. Kompanie wurde seinerzeit wohl von dem SS-Scharführer Reinhold Feix geführt und ausgebildet139, einem notorischen Gewalttäter, der ab Spätsommer 1942 das Lager II (die eigentliche Tötungseinrichtung) im Vernichtungslager Bełżec kommandierte.
Ferner gab es in Trawniki einen Unterführerlehrgang, der anscheinend in Personalunion von Willi Franz geführt wurde und mit der 8. Kompanie identisch gewesen sein könnte. Dort wurden vorzugsweise Russlanddeutsche zu Zugwachmännern herangebildet.140 Es scheint also ein Selbstrekrutierungssystem zur Schaffung einer Unterführerreserve gegeben haben, an dem anscheinend vor allem die 1. und die 8. Kompanie beteiligt waren.141
In sowjetischen Vernehmungen werden die Namen einiger Zugführer immer wieder genannt: die Russlanddeutschen Christian Schmidt, Friedrich Schneider, Heinrich Schütz, Franz Bienemann, Samuel Kunz und Friedrich Siebert sowie Wolodja Budziak und Aleksandr Zel'man, bei denen es sich um Ukrainer gehandelt haben dürfte. Die drei Russlanddeutschen sollen während ihres Aufenthalts in Trawniki 1941 noch den Rang eines Oberwachmann gehabt haben, scheinen also erst im Vernichtungslager die nächste und seinerzeit höchste Beförderungsstufe des Zugwachmanns erreicht zu haben. Das spricht für ›Bewährung‹ im deutschen Sinn, also beim Judenmord.
Alle Genannten waren über mehr oder weniger lange Zeiträume hinweg in Bełżec, wobei Schmidt, Schneider, Kunz und Bienemann um Weihnachten 1941 in das entstehende Vernichtungslager versetzt wurden, Budziak und Zel'man möglicherweise zur selben Zeit. Auch Schütz kam nach Bełżec.142 Dort fungierten Schmidt, Schneider und Siebert als Zugführer. Die sowjetdeutsche Kernmannschaft der späteren Wachkompanie von Bełżec wurde anscheinend aus den Unterführern ein und derselben Kompanie in Trawniki (möglicherweise der 1. Kompanie) rekrutiert.
Da die Schulung der Sowjetdeutschen anfänglich im Vordergrund stand, wurden viele Rekruten, die ab Oktober 1941 nach Trawniki kamen, zunächst gar nicht ausgebildet. Eine größere Gruppe war wochenlang mit der Anfertigung von Bastschuhen in Lublin beschäftigt, bevor die Ausbildung begann.143 Teilweise war der körperliche Zustand der Gefangenen so schlecht, dass sie in einer längeren Seuchenquarantäne ›aufgepäppelt‹ werden mussten. Der Kontrast zwischen dem erlittenen Hunger und der »guten Verpflegung«, die in Trawniki verabreicht wurde, erhöhte mit hoher Wahrscheinlichkeit die Loyalität der Rekruten.144
Die künftigen Wachmänner erhielten eine militärische Grund- und Waffenausbildung, mussten die deutsche Kommandosprache und das Singen deutscher Lieder erlernen. Die Ausbildung war »sehr hart«. Die Kriegsgefangenen wurden scharf gedrillt und mit Ochsenziemern geschlagen.145