Abb. 4: Der T 4-Funktionär Werner Blankenburg (2. v. rechts) im Gespräch mit Zugwachmann Bienemann, Juli 1943.
Demedjuk wurde degradiert und vor das SS- und Polizeigericht Warschau gestellt. Seine Frau wurde im nahen Zwangsarbeitslager Treblinka inhaftiert. Nach einigen Wochen war Demedjuk wieder auf freiem Fuß. Schriftlich beschwerte er sich über die fortdauernde Inhaftierung seiner Frau. Sie beide seien »ganz unschuldig«, und er werde sich »bis an Hitler« wenden, falls seine Frau nicht aus der Haft entlassen würde.212 Hier gab es kein Unrechtsbewusstsein, sondern bemerkenswertes Selbstvertrauen.
Es fehlte auch nicht an weiteren Zeichen offizieller Wertschätzung; vor allem seit die Deutschen 1943 endgültig in die militärische Defensive geraten waren. Trawniki-Männer, die sich besonders ausgezeichnet hatten, durften polnische Frauen heiraten.213 Streibel schrieb den Hinterbliebenen von Wachmännern, die im Partisanenkampf umgekommen waren, persönliche Kondolenzbriefe. Bisweilen wurden »Trawnikis« sogar mit militärischen Ehren auf deutschen Soldatenfriedhöfen beigesetzt.214
Zahlreiche Trawniki-Männer wurden 1944 mit Tapferkeitsauszeichnungen und der Kriegsverdienstmedaille bedacht. Diese wurde als unterste Stufe des Kriegsverdienstkreuzes für mindestens halbjährige »Verdienste bei Durchführung von Kriegsaufgaben« verliehen, vor allem für Tapferkeit vor dem Feind.215 Jedoch war das Kriegsverdienstkreuz auch die bevorzugte Auszeichnung für Verbrechen an Juden und Polen.216 Auch Streibel betrachtete die Ermordung von Juden als Kriegsaufgabe und Verdienst. Dies geht aus seinen Verleihungsvorschlägen für Tapferkeitsauszeichnungen wörtlich hervor.
Der Zugwachmann Jakob Reimer war einer der so Bedachten.217 Reimer, ein früherer Leutnant der Roten Armee, diente als Ausbilder in Trawniki. Er ließ seine Untergebenen während der Lubliner Ghettoräumung im Frühjahr 1942 Juden zu Übungszwecken erschießen. Ferner nahm Reimer an der Deportation von Juden aus dem Ghetto Tschenstochau im Spätsommer 1942 und an der Vernichtung des Warschauer Ghettos im Frühsommer 1943 teil.218
Wie eine kürzlich aufgetauchte Fotosammlung des stellvertretenden Kommandanten von Sobibór, Johann Niemann, belegt, reisten die in Sobibór und Treblinka eingesetzten T 4-Angehörigen im Sommer dieses Jahres zu einer Besichtigungsfahrt nach Potsdam und Berlin. Dieser Betriebsausflug war eine Belohnung für geleistete Dienste in den Mordlagern. Rund zwanzig »Trawnikis« waren mit von der Partie. Die deutschen Täter betrachteten diese Männer offenbar als vollwertige Mitglieder ihrer Netzwerke.219 Eines der Fotos (vgl. Abb. 4) zeigt den »Euthanasie«-Funktionär Werner Blankenburg im angeregten Gespräch mit dem russlanddeutschen Massenmörder Franz Bienemann, der in seiner Trawniki-Uniform die preußischen Sehenswürdigkeiten bewunderte.220
3.3.6Flucht und Desertion
Es war allerdings auch möglich, aus dem Dienst des Ausbildungslagers auszuscheiden, wenn man triftige Gründe vorbringen oder sich Unterstützung von außen beschaffen konnte. Die Spielräume glichen insoweit denjenigen, die auch Truppenpolizisten ausschöpfen konnten: Ein Ausstieg war möglich, solange der Organisationszweck nicht in Zweifel gezogen und die Funktionstüchtigkeit des Systems nicht beeinträchtigt wurde. So durften der Rekrut Michel Kuschniruk, ein Rotarmist rumänischer Herkunft, und zwei seiner Landsleute in die Heimat zurückkehren, weil sich das deutsche Konsulat in Bukarest für die jungen Männer verwendet hatte.221 Andere Wachmänner wurden aus gesundheitlichen Gründen nach Hause geschickt.222
Wie bereits dargestellt wurde, behielten die Trawniki-Männer formal ihren Kriegsgefangenenstatus. Faktisch war dies aber bedeutungslos. Andernfalls hätte sich den Wachmännern die Möglichkeit eröffnet, ihre Organisation zu verlassen, indem sie ihre Rückversetzung ins Kriegsgefangenenlager provozierten. Soweit bisher bekannt, schickten aber nur im Einzelfall deutsche Vorgesetzte widersetzliche Wachmänner in die Stammlager zurück.223 In Anbetracht zahlreicher Desertionen hätten Trawniki-Männer von dieser vergleichsweise ungefährlichen Möglichkeit sicher häufiger Gebrauch gemacht, wenn das möglich gewesen wäre.
Da die Trawniki-Männer keinem militärischen Verband angehörten, wurden Desertionen als »unerlaubtes Verlassen« oder »Flucht« klassifiziert. Solche Desertionen kamen vor allem 1943 vemehrt vor. Black schätzt, dass nicht weniger als ein Drittel der Wachmänner früher oder später desertiert ist.224 Sie kehrten nach dem Ausgang nicht wieder in die Unterkunft zurück oder entwichen nachts. Nach Trawniki-Deserteuren wurde im Ausbildungslager, von Sicherheits- und Ordnungspolizeistellen sowie SS- und Polizeigerichten gefahndet. Doch wurde die Suche nicht mit großem Nachdruck betrieben, und nur selten gelang es den deutschen Behörden, geflüchtete Wachmänner wieder zu ergreifen.
In einigen Fällen kam es zu Gruppenausbrüchen. So suchten am 29./30. August 1943 sechzehn Wachmänner des Zwangsarbeitslagers Plaszów gleichzeitig das Weite.225 Auch aus den Vernichtungslagern, besonders Bełżec, unternahmen 1942/43 Trawniki-Männer Fluchtversuche. Ihre Erfolgsaussichten waren allerdings deutlich geringer. Die SS wollte begreiflicherweise keine Zeugen ihrer Verbrechen entkommen lassen und fahndete intensiv nach den Flüchtlingen. Wiederergriffene Deserteure wurden als Aufrührer und »Partisanen« erschossen.226 Trotzdem gelang es einigen Trawniki-Männern, dem Vernichtungslager zu entkommen.
Es gab unterschiedliche Gründe zur Desertion. Wachmänner wollten sich der harten Disziplin entziehen. Andere waren der schlechten Verpflegung überdrüssig oder hatten Heimweh. Seit 1943 dominierte zweifellos die Angst vor der Strafverfolgung und Rache der sowjetischen Staatsorgane. Um diese zu verhindern, versuchte man, sich zur Roten Armee durchzuschlagen oder Partisanengruppen anzuschließen, die im Generalgouvernement operierten. Die Wachmänner nahmen Waffen und Munition mit, teilweise brachen sie zu diesem Zweck in die Waffenkammern ihrer Kommandos ein. Die bewaffnete Flucht wurde deutscherseits als Freischärlertum betrachtet und mit der Erschießung Wiedergriffener gehandet.227
Desertionen dürften in vielen Fällen aber auch ein Versuch gewesen sein, sich der Beteiligung an Massenverbrechen zu entziehen, wie die zeitliche Abfolge zeigt: Auf Judenmordaktionen folgte direkt anschließend die Flucht.228 Für Bełżec wird dies auch durch die Aussagen von flüchtigen Wachmännern bestätigt, die den Krieg überlebten. Demnach nahmen sie die ›Abfertigung‹ eintreffender Transporte als herausragende Ereignisse wahr, die zur Flucht Anlass gaben. Dieses Erleben muss jedoch auf Wachmänner im zweiten Glied beschränkt gewesen sein, weil andere so permanent mit Massenmorden beschäftigt waren, dass ein Transport mehr oder weniger kaum auffallen konnte. Dies deutet darauf hin, dass das System der Trawniki-Männer Bindekraft in dem Maße entfaltete, wie seine Mitglieder an Massenverbrechen partizipierten.
Das individuelle Verhalten der Trawniki-Männer ist im Übrigen nicht auf einen Nenner zu bringen. Die »besondere Führungsweise«, die Globocnik in seiner Beurteilung Streibels hervorhob, beinhaltete beides: scharfe Disziplin und harte Strafen, zugleich aber Gewaltausübung durch Wachmänner bis zum Exzess und Bereicherung im teils großen Stil.229
Rückschlüsse auf die Handlungsmotive oder das Denken individueller Trawniki-Männer lassen sich aus solchen Befunden nicht ziehen. Desertion in Gruppen kann als Indiz für den Druck gewertet werden, der auf den Trawniki-Männern lastete und ihnen subjektiv keinen anderen Ausweg ließ. Sie kann aber auch darauf zurückgeführt werden, dass seit dem Ende der Massenmorde Geldquellen versiegten und der Verbleib im Wachkommando unattraktiv wurde. Deutscherseits war man stets geneigt, solche Motive für Unzuverlässigkeit zu unterstellen. Aber das bleibt Spekulation: Selten gaben ehemalige Wachmänner in ihren Nachkriegsvernehmungen Bereicherungsabsichten offen zu.230
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