Lemberg wurde am frühen Morgen des 30. Juni 1941 von deutschen Gebirgsjägern besetzt.22 Teile des kurz darauf eingetroffenen Bataillons Nachtigall besetzten das Lemberger Rundfunkgebäude. Entsandte Banderas, der in Krakau zurückgeblieben war, proklamierten über den Rundfunk einen selbstständigen ukrainischen Staat unter der Präsidentschaft des OUN-Politikers Jaroslav Stec'ko.23 Die Wehrmacht intervenierte nicht und auch die ihr folgende Einsatzgruppe C ließ die Regierung Stec‹ko zunächst gewähren. Bandera wurde verhaftet und später in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingewiesen.24 Stec'ko stimmte seiner Verbringung in »Ehrenhaft« zu, wurde am 9. Juli verhaftet, nach Berlin gebracht und dort kurze Zeit später auf freien Fuß gesetzt.25
Schon kurz nach Beginn des deutschen Überfalls hatte die OUN damit begonnen, eine Miliz aufzustellen. Deren erste Aufgabe sahen Bandera und Stec‹ko darin, die Bolschewisten aus der Ukraine zu entfernen und die Juden zu ermorden.26 Aus der Miliz sollte später eine ukrainische Nationalarmee hervorgehen. Sie übernahm die vormals sowjetischen Polizeikommissariate und initiierte ein Pogrom gegen die Lemberger Juden. Auslöser dieser Gewaltaktionen waren Massaker der abziehenden Roten Armee und der sowjetischen Geheimpolizei an politischen Häftlingen und deutschen Soldaten, die in den ersten Kriegstagen in sowjetische Gefangenschaft geraten waren. Es handelte sich jedoch nicht um »spontane« antisemitische Ausschreitungen, sondern offenkundig um ein mit der SS abgestimmtes Pogrom. Die sowjetischen Verbrechen lieferten eine willkommene Rechtfertigung dieses »Volkszons« im Sinne von Heydrichs Befehlen.27
Gleichzeitig fanden Pogrome ukrainischer Nationalisten überall in Ostgalizien statt, auch in Städten und Orten, in denen es keine sowjetischen Verbrechen gegeben hatte. Das Militär tat wenig oder gar nichts, um die tagelangen, offenbar mit der deutschen Seite abgestimmten Ausschreitungen zu unterbinden. Solche Verbrechen durch einheimische Protagonisten beschränkten sich nicht auf die Westukraine. In der lettischen Hauptstadt Riga und im litauischen Kaunas – auch dort im Gefolge sowjetischer Rückzugsverbrechen – brachten örtliche Rechtsradikale unter den Augen deutscher Soldaten und Polizisten tausende Juden um.28
In Lemberg erschossen deutsche Formationen unmittelbar nach dem Pogrom jüdische Männer. Diese Erschießungen wurden von der Einsatzgruppe C unter SS-Brigadeführer Dr. Dr. Otto Rasch und dem ihr folgenden Einsatzkommando z. b. V. durchgeführt. Es handelte sich um eine aus dem bisherigen Generalgouvernement nachgeführte Formation, die dem dortigen Befehlshaber der Sicherheitspolizei, SS-Brigadeführer Schöngarth, unterstand. Den Morden der ersten Besatzungstage fielen bis zu 7 000 Lemberger Juden zum Opfer.29 Himmler genügte das nicht. Er besuchte Ende Juli die Stadt und drängte auf höhere Erschießungszahlen, die sofort erbracht wurden. Auf diese Weise schaltete sich der SS-Chef auch an anderen Orten des deutschen Vormarsches ein, um den Judenmord zu radikalisieren.30
Die deutsche Militärverwaltung erließ antisemitische Vorschriften, darunter der Kennzeichnungszwang und der Arbeitszwang.31 Es folgte die Registrierung der Juden durch den sog. Jüdischen Ältestenrat, der nach gehabtem Muster die Lemberger Juden registrieren und Zwangsarbeiter stellen musste.32 Der Lubliner SS- und Polizeiführer Globocnik ließ eine KfZ-Werkstatt an der Lemberger Janowskastraße errichten. Dies sollte den ersten Anfang eines SS- und Polizeistützpunkts darstellen, wie ihn Globocnik auf Befehl Himmlers in allen neu eroberten Gebieten der UdSSR errichten sollte, um die Ostraumplanung des SS-Chefs zu verwirklichen.33 Die Werkstatt wurde nach kurzer Zeit von den SS-eigenen Deutschen Ausrüstungswerken übernommen und war damit Globocniks Zugriff formal entzogen. De facto behielt er aber die Kontrolle und verteidigte diese auch gegen den SS- und Polizeiführer des Distrikts Galizien, Katzmann.34
Das Vorgehen gegen die Juden wurde nach dem Beginn der Zivilverwaltung im Distrikt Galizien ab 1. August 1941 systematisiert, indem man die bestehenden Rechtsvorschriften zur Isolierung und Beraubung der jüdischen Bevölkerung auf das neue Gebiet übertrug.35 Diese Angleichung an das bisherige Generalgouvernement war aber nicht vollständig. So verfügte die Zivilverwaltung nicht über rechtliche Kompetenzen zur Einrichtung von Ghettos. Denn Frank hatte im Juli 1941, in Erwartung bevorstehender großer Deportationen in die UdSSR, ausdrücklich die Neubildung von Ghettos untersagt.36
Ebenfalls etwa Anfang August begannen die weiter nach Osten vorgerückten Einsatzgruppen und die Himmler direkt unterstellten Einheiten der Waffen-SS, nicht mehr ›nur‹ sowjetische Männer, sondern auch Frauen und Kinder zu erschießen. Seit spätestens Oktober 1941 löschten sie ganze jüdische Gemeinden aus.37 Dasselbe geschah seit der ersten Oktoberwoche im Distrikt Galizien und, in geringerem Umfang, im Distrikt Lublin.38 Daher war es kein Zufall, dass die Massenvergasungen der »Aktion Reinhardt« von ebendiesen Gebieten ihren Ausgang nahmen: Der Übergang zur »Endlösung« war in Ostgalizien bereits vollzogen, im Lubliner Gebiet stand er dicht bevor.39 Beide Distrikte sollten zudem vorrangig ›germanisiert‹ werden. Dies setzte im Verständnis der SS zwingend voraus, dass die Juden zuvor entfernt wurden.
3.2Die Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen
Da die Verbände von Heer und Luftwaffe schnell vorstoßen und die Rote Armee in großen Umfassungsschlachten vernichten sollten, war damit zu rechnen, dass Hunderttausende sowjetischer Soldaten bereits in den ersten Tagen und Wochen des Krieges in deutsche Gefangenschaft geraten würden.40 Die Wehrmacht traf jedoch keine Vorkehrungen für ihre angemessene Unterbringung und Ernährung. Dies war Teil des deutschen Hungerplans, den die militärische Führung des NS-Staates mit entwickelt hatte und mittrug.
Überhaupt waren Rotarmisten nach Hitlers Meinung »keine Kameraden«41 und standen nicht unter dem Schutz des Kriegsvölkerrechts. Das Heer sollte die Truppenkommissare der Roten Armee, also die Funktionäre der KPdSU im sowjetischen Militär, bereits im Operationsgebiet aussondern und erschießen: »Diese Kommissare werden nicht als Soldaten anerkannt; der für die Kriegsgefangenen völkerrechtlich geltende Schutz findet auf sie keine Anwendung. Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen.«
Zivile Kommissare, also höhergestellte Funktionäre der KPdSU, waren ebenfalls in Gefangenschaft zu nehmen, sollten aber zunächst unbehelligt bleiben, »sofern sie sich keiner feindlichen Handlung schuldig machten.« Es lag im Ermessen der Offiziere, diese Zivilisten zur Erschießung an die Mordkommandos der Sicherheitspolizei und des SD abzugeben, wobei »der persönliche Eindruck von der Gesinnung und Haltung des Kommissars« höher zu gelten habe als der beweisbare Tatbestand. Kommissare, die im rückwärtigen Heeresgebiet ergriffen wurden, waren aus den Stamm- und Durchgangslagern für Rotarmisten durchweg an die Erschießungskommandos der SS abzugeben.42 Dieser berüchtigte »Kommissarbefehl« wurde von der weit überwiegenden Mehrheit der deutschen Verbände angewendet. Er forderte eine hohe vierstellige Zahl von Opfern.43
Heydrich übersandte den Einsatzgruppen am 17. Juli 1941 Richtlinien für die »Säuberung der Gefangenenlager, in denen Sowjetrussen untergebracht sind.« Diese waren mit dem für das Kriegsgefangenenwesen zuständigen Oberkommando der Wehrmacht abgestimmt. Die für die jeweiligen Lager zuständigen Abwehroffiziere des Heeres sollten eine »grobe Trennung« von Zivilpersonen und Soldaten vornehmen und »politisch untragbare Elemente« aussondern. Das Militär sollte aber auch solche Zivilisten und Soldaten heraussuchen, die »besonders vertrauenswürdig erscheinen und daher für den Einsatz zum Wiederaufbau der besetzten Gebiete verwendungsfähig sind.«
Aufgabe der SS-Kommandos war es, auf der Grundlage dieser Vorauswahl »untragbare« und kollaborationsbereite Kriegsgefangene auszusondern. Erstere waren außerhalb des Kriegsgefangenenlagers von SS-Kommandos zu erschießen. Letztere sollten zunächst bei der »Aussonderung von Verdächtigen« und sonstigen