Spätestens seit Oktober 1941 standen die Rotarmisten vor der Wahl zwischen dem SS-Dienst und der sehr realen Gefahr des Verhungerns:
»Die Unterbringungsbedingungen waren in diesen Lagern schrecklich. Der Tod mähte die Menschen nieder. Hungersnot, Kälte, aufreibende Arbeit und Grausamkeiten der Bewachung brachten die Gefangenen zur Verzweiflung. Jeder von uns wartete auf den Tod. […] Wir wussten nicht, wozu wir gebraucht wurden, wir interessierten uns auch nicht dafür, denn es war uns egal, Hauptsache, raus aus dieser Hölle.«95
Hiermit übereinstimmend hat ein Beschuldigter vor sowjetischen Vernehmern zu Protokoll gegeben, er habe seiner Rekrutierung zugestimmt,
»um mein eigenes Leben zu retten. Unter den Kriegsgefangenen im Lager Cholm gab es im Herbst 1941 eine massive Todesrate wegen des Fehlens von Essen, Krankheit in Verbindung mit der Kälte und unhygienischen Bedingungen. Ich glaubte seinerzeit, dass ich dasselbe Schicksal erlitten hätte, wenn ich im Lager geblieben wäre, daher stimmte ich zu, den Wachmannschaften der SS beizutreten.«96
Ein ehemaliger Trawniki-Unterführer schilderte in sowjetischer Haft den Anwerbungsvorgang wie folgt:
»Im September 1941 kam eine Gruppe deutscher Offiziere in unser Kriegsgefangenenlager. Sie erschienen vor unserer Gruppe und kündigten an, dass sie erschienen seien, um Leute für die deutschen SS-Wachmannschaften zu rekrutieren. Diejenigen, die zustimmten, diesem Dienst beizutreten, würden sofort aus dem Kriegsgefangenlager entlassen und in eine Schule für Wachmänner geschickt werden, um ausgebildet zu werden. Personen deutscher Nationalität unter den Kriegsgefangenen wurden nach ihrem Nachnamen aufgerufen. Ich wurde ebenfalls auf diese Weise aufgefordert. Insgesamt gaben etwa 100 Personen ihr Einverständnis, bei den SS-Streitkräften zu dienen. Fünf dieser Personen waren Russlanddeutsche wie ich.«97
In anderen Fällen hatten sich russlanddeutsche Rekruten bereits durch die Übernahme von Spitzeldiensten gegen »untragbare« Rotarmisten oder als Lagerpolizisten im Kriegsgefangenenlager empfohlen98:
»Im Herbst 1941, um den Monat Oktober, erschienen deutsche Offiziere im Lager Cholm. Sie ordneten an, dass alle Polizisten [Lagerpolizisten] in Formation gestellt werden sollten. Währenddessen sagte einer der Offiziere, dass er Leute für den Dienst als Wachmänner in den SS-Wachmannschaften auswähle, und dass diejenigen, die zu dienen wünschten, vor einer Kommission zu erscheinen hätten. Ich erinnere mich nicht mehr an den gesamten Auswahlprozess, aber ich erinnere mich, dass die anderen Ausgewählten und ich selbst vor die Kommission zitiert wurden. Die Kommission nahm die endgültige Auswahl vor. Wir betraten das Büro alle gleichzeitig. Ein deutscher Offizier fragte nach meinen Namen, Vornamen und Vatersnamen, meinem Geburtsort und meinem [Militär-]Dienst, wonach er mich körperlich untersuchte. Danach wurden diejenigen, die ausgewählt worden waren, mich eingeschlossen, in das Ausbildungslager in die Ortschaft Trawniki geschickt.«99
Eine politisch-ideologische Vorauswahl schildert ein Zeuge noch für den Sommer 1942:
»Im Juli 1942 kamen ins Kriegsgefangenenlager in Cholm die Vertreter der deutschen Führung der SS-Truppen, es waren ungefähr 8 – 10 deutsche Offiziere, darunter waren ein Arzt und ein Dolmetscher für die deutsche Sprache […]. Auf Anordnung dieser angekommenen Offiziere stellte die Lageradministration alle Lagergefangenen in einer Reihe auf. Die angekommenen Offiziere, der Arzt und der Dolmetscher fingen an, nach eigenem Ermessen junge und körperlich gesunde Kriegsgefangene auszusuchen. Anfangs erklärte niemand von den Vertretern den Gefangenen, zu welchem Zweck und wofür die Gefangenen ausgesucht wurden. Bei dem Vorgang fragte ein deutscher Offizier der SS-Truppen […] jeden Gefangenen durch den Dolmetscher nach seinem Geburtsort, Nationalität, Mitgliedschaft bei der kommunistischen Partei und beim Komsomol und nach den Verwandten. Als der besagte Offizier mich befragte, sagte ich ihm, ich sei Ukrainer von Nationalität und stamme aus dem Gebiet Stalino, war nie Mitglied bei der Partei und beim Komsomol, über meine Verwandten sagte ich, dass 1930 ihr Vermögen von den Organen der sowjetischen Macht enteignet wurde. Danach wurde mir befohlen, die Reihe zu verlassen und mich zu den Ausgesuchten zu stellen. Auf diese Art und Weise wurden ungefähr 30 Gefangene, darunter auch ich, ausgewählt. Der deutsche Offizier sagte über den Dolmetscher, dass wir für den Dienst bei der Deutschen Armee ausgesucht wurden. Alle ausgesuchten Gefangenen und auch ich stimmten dem zu.«100
In anderen Fällen wählten die Deutschen durch bloßen Fingerzeig gesund aussehende Gefangene aus, die per LKW nach Trawniki gefahren und erst dort zu einer ›freiwilligen‹ Meldung zum SS-Dienst aufgefordert wurden:
»Nachdem wir uns umgezogen hatten, wurden wir aufgestellt und uns wurde über einen Dolmetscher erklärt: Wer bei der deutschen Armee dienen und mit der Waffe in der Hand die deutsche Macht verteidigen möchte101, solle einen Arm hochheben, und wer nicht, solle zwei Schritte nach vorn kommen. Zusammen mit den anderen hob ich den Arm hoch und wurde bei der deutschen Armee aufgenommen, danach wurden wir in zwei Kompanien aufgeteilt. Danach wurde uns über einen Dolmetscher erklärt, dass wir eine Ausbildung an einer Wachmannsschule machen würden.«102
Insgesamt ergibt sich somit für das Jahr 1941 eine Mischung aus ideologischen und pragmatischen Auswahlkriterien auf Seiten des Ausbildungslagers, teilweise vorbereitet durch Wehrmachtsoffiziere, und einer seit Oktober 1941 zunehmenden Zwangslage auf Seiten der Kriegsgefangenen. Für die erste Gruppe der Rekrutierten stand der Hungertod wahrscheinlich noch nicht so deutlich am Horizont wie danach. Die Mehrheit der Zeugen sagte aus, der Zweck der Auswahl, also die Ausbildung zu Wachmännern, sei den betreffenden Soldaten bereits im Kriegsgefangenenlager bekannt gegeben worden.
Im folgenden Jahr waren die anfangs jedenfalls formal maßgeblichen Kriterien nicht mehr entscheidend. Rekrutiert wurden nun, nach dem Beginn der deutschen Sommeroffensive, bevorzugt »vertrauenswürdige« Ukrainer. Die anfänglich als maßgeblich herausgestellten ethnischen Qualitätsmaßstäbe traten bald in den Hintergrund. Es kam nun praktisch alle Gefangenen in Betracht, die dazu bereit waren und nach ihrem körperlichen Zustand in der Lage schienen, Waffendienst zu verrichten. In einigen Fällen wurde ihnen erst in Trawniki gesagt, wozu man sie geholt hatte.
Der Kontrast zwischen den weit ausgreifenden ideologischen Zielsetzungen Globocniks und der erstaunlich unideologischen Auswahlpraxis der SS fällt ins Auge:
»Unlike other auxiliary organizations utilized for shooting operations over a broad national or regional space […] usually the Trawniki guards were neither locally recruited nor ethnically homogeneous. While the Germans took pains to identify ideologically suitable persons for service in Trawniki, few of the Trawniki men had ben active previously as anti-Soviet activists or Ukrainian nationalists. This contrasts sharply with many of those who volunteered for the Latvian and Lithuanian killing units, or served as local police auxiliaries in the Ukraine.”103
Diese Feststellung widerspricht der Annahme Kühls, dass die rekrutierten Trawniki-Männer »nicht den Durchschnitt der männlichen Bevölkerung repräsentierten«, sondern »zu großen Teilen auch aufgrund ihrer vermuteten positiven Einstellung zum nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm« in das Ausbildungslager aufgenommen worden seien, weshalb »die Rekrutierungspraxis der Trawnikis eher der der SS- Totenkopfverbände und der SS-Verfügungstruppen als [derjenigen] der Deutschen Polizei« entsprochen habe. Kühl geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass das Ausmaß der Freiwilligkeit höher als bisher angenommen war, dass also Rotarmisten wegen ihrer angenommenen ideologischen Prädisposition nicht gezwungen werden mussten, Globocniks Hilfspolizei beizutreten.
Tatsächlich war der SS sehr daran gelegen, die Fiktion der Freiwilligkeit aufrechtzuerhalten. Den Wachmännern wurde eine Dienstverpflichtung in deutscher und russischer Sprache zur Unterschrift vorgelegt und zur Personalakte genommen. Demnach verpflichteten sie sich freiwillig »für Kriegsdauer« als Wachmannschaften und unterwarfen sich »den bestehenden