In diesem Moment glomm das Gesicht des Gottes so deutlich auf, dass die Klarheit in Aigonns Augen schmerzte. Für einen Moment erkannte er jede Kontur, jede Feinheit, die seine Vorstellungen aus Kindertagen, die er sich immer von seinen Göttern gemacht hatte, in jeder Weise darstellte. Doch dann veränderte sich das Antlitz. Es wurde alt, menschlicher, verwandelte sich in das Gesicht eines narbengezeichneten Mannes mit rauschendem Bart und langen, grauen Haaren, die mit einer Strähne ein Auge verdeckten. So, wie die Krieger es zu tun pflegten, wenn sie in der Schlacht ein solches verloren.
Nachdenklich legte Aigonn die Stirn in Falten. Seine Gedanken sogen das Bild auf, prägten es sich ein, was immer es zu bedeuten hatte. Dann begannen die Götter zu verschwimmen. Wo Aigonn bisher noch Gestalten hatte wahrnehmen können, glommen Lichtscheine von blendender Gewalt, die seine Augen jedoch erfassen konnten, als wäre er selbst Teil davon. Sein Körper, sein Geist schienen schwerelos und von einer klärenden Leere erfüllt, die nicht genug Raum ließ, um über das eben Erlebte spekulieren zu können. Aigonn wusste, dass etwas geschehen war. Doch um sich dessen bewusst zu werden, war es noch nicht an der Zeit.
Die Gestalt seiner Mutter war wieder zu sehen. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und beschwor damit eine Wärme, die ihn wehmütig werden ließ. „Du musst gehen, Aigonn. Du kannst nicht bleiben.“
Es dauerte, bis diese Tatsache seine Gedanken erreichte. Die Präsenz der Götter, die noch immer in der Luft hing wie ein Funkenregen, machte es ihm schwer, die Realität ins Auge zu fassen, die ihm nie entfernter erschienen war als in diesem Moment.
„Und wie komme ich zurück?“
„Hör hin, Aigonn“, flüsterte sie. „Höre sie!“
Aigonn schloss die Augen. Alles an ihm wehrte sich dagegen, dies zu tun. Er wollte nicht fort, wollte bleiben. Das Gefühl von Ruhe und Ausgeglichenheit, das seinen Geist erfasst hatte, machte bloß den Gedanken an die Welt der Menschen abstoßend und unerträglich. Doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Die Götter hatten ihm eine Gabe geschenkt, die in der Anderen Welt keinen Zweck haben würde. Sie war den Toten nicht von Nutzen, sondern für sein eigenes Volk bestimmt. Sein Kopf war noch nicht in der Lage, all dies in seinem vollen Ausmaß zu erfassen. Doch er spürte, dass er den Weg zurückfinden musste, musste!
Dann auf einmal hörte er sie. Sie schien so unendlich weit entfernt, doch erweckte in ihm eine Erinnerung, die lebendiger zu lodern begann als alles, das ihn soeben noch umgeben hatte. Die Götter selbst boten ihr die Möglichkeit dazu. Und Aigonn wusste, dass er ihr folgen konnte.
„AIGONN! KOMM ZURÜCK ZU MIR!“
„Anation.“ Ihr Name war nur ein Flüstern gewesen, doch er holte den Gedanken an sein Leben zurück. Die Stimme wurde zu einem Wegweiser, führte ihn. Wie von selbst machte Aigonn einen Schritt nach vorn. Er spürte das Lächeln seiner Mutter im Rücken.
Auf einmal aber stutzte er, wirbelte herum und fasste Moribe am Arm. Seine Lippen begannen eine Frage zu formen, seine Mutter jedoch brachte ihn mit einer Geste zum Innehalten.
„Ich werde dich nicht allein lassen, auch jetzt nicht. Das verspreche ich dir. Dir und Efoh.“
Damit begann ihre Gestalt zu verschwinden. Aigonn wehrte sich nicht gegen die Kraft, die nach ihm langte. Sie war nur ein Funken, ein dünner Schimmer von dem, was er nie so hatte begreifen können, aber von dem er immer gewusst hatte, dass es da war. Die Wehmut darüber, diesen Ort verlassen zu müssen, zerfloss in schimmernden Lichtstrahlen, während er sich umdrehte, zu laufen begann. Die Andere Welt verlor ihre Konturen. Er kehrte in die gestaltlose Leere zurück, die ihn empfangen hatte. Der leuchtende Wirbel erschien vor ihm, der dünne Strahl seines Lebens, eine Stimme.
„Aigonn!“ Rowilan tätschelte aufgeregt seine Wange. Anation kauerte entrückt zu seinen Füßen. Ihre ruhigen, gemäßigten Atemzüge verrieten die Kontrolle, die sie über die Lage erzwungen hatte. Sie würde seine Hilfe nicht brauchen.
Aigonns Lider jedoch begannen zu flackern. Ein leises Stöhnen verriet, wie nahe er seinem Körper war. Er kehrte zurück!
„Aigonn!“ Die Schläge des Schamanen wurden fester. „Aigonn!“ Auf einmal schlug Anation die Augen auf. Mit einem keuchenden Atemzug kehrte sie in ihren Körper zurück und ließ sich nach hinten auf die Hände fallen.
Dann begann Aigonn sich zu regen. Obgleich die Intensität des Rituals Anation sichtbar ermüdet hatte, rappelte sie sich auf, kämpfte mit dem Schwindel, bevor sie sich aufraffen konnte und den jungen Mann an der Hand fasste. Lächelnd flüsterte sie: „Er kommt zurück!“
Als hätten diese Worte den letzten Ausschlag gegeben, öffnete Aigonn den Mund zu einem tiefen Atemzug. Orientierungslos schlug er die Augen auf, blinzelte gegen die Müdigkeit an.
Erschrocken zuckte Anation zurück. Sie starrte in Aigonns Gesicht, erst schockiert, dann erkennend. Rowilan blickte fragend von ihr zu Aigonn, unsicher, was er davon halten sollte. Die junge Frau aber verstand, was geschehen war – und dieser Gedanke allein erfüllte sie mit Ehrfurcht.
Aigonn selbst spürte die Gefühle nicht, die ihn umgaben. Seine Lider schienen schwer wie Felsen zu sein, als er die Augen aufschlug. Verschwommene Bilder tanzten vor seinem Blick, klärten sich nur langsam. Ihm war unklar, warum sein Sichtfeld nicht größer wurde. Als er jedoch in Anations Miene blickte, begann er etwas zu ahnen. Zwei Augen sahen zu der jungen Frau hinauf, die eine Iris blau und klar, die andere jedoch von einer weißen Haut überzogen. Mehrfach blinzelte Aigonn, bis ihm die Wahrheit bewusst wurde. Die Erinnerungen kehrten zurück und brachten den Gedanken daran, was er befürchtet hatte. Sein linkes Auge zeigte ihm die Gestalten von Rowilan und Anation, deren Anwesenheit erlösende Erleichterung gab. Das andere Auge jedoch war erblindet.
Das zweite Leben
In dieser Nacht war nicht mehr viel passiert. Trotz dem einseitig recht glücklichen Ausgang der Ereignisse, schlug bald Erschöpfung über allen Beteiligten zusammen. Obwohl die Grotte Schutz vor Wildtieren und schlechter Witterung bot, hielt Aigonn es dort nicht aus. Mit wackeligen Beinen hatte er sich unter den freien Sternenhimmel gerettet, von Anation und Rowilan gestützt, die draußen im Schatten der Felswand ein Feuer entzündeten.
Anation verlor als erste den Kampf gegen die Müdigkeit. Obgleich es Rowilan missfiel, ihr keine weiteren Fragen stellen zu können, verstand er, dass es ohnehin nicht der richtige Zeitpunkt gewesen wäre. Stattdessen weihte er Aigonn in die Geschehnisse ein, der sich zwanghaft wach hielt, bis alle Fragen beantwortet waren. Es fiel dem Schamanen schwer zu beurteilen, wie der junge Mann die Ereignisse auffasste. Im ersten Moment glaubte er, Schrecken in seiner Regung auszumachen, dann wurde sie zu einem stillen Erkennen. Aigonn verblieb erschreckend schweigsam und begann, Rowilan die restliche Nacht über zu ignorieren, während er ins Feuer starrte und irgendwann einschlief.
Die Gefährten ruhten fast bis zum nächsten Mittag. Rowilan war der einzige, der bis zum Morgengrauen wachgelegen hatte, den Blick zu den Sternen gerichtet, die immer wieder zwischen Wolken und den Silhouetten der im Wind schwankenden Bäume auftauchten. Der Schamane schlief nur kurz und unruhig, erwachte bald wieder völlig unausgeschlafen, jedoch unfähig dazu, weitere Ruhe zu finden. Rastlos streifte er durch den nahen Wald, von den Geistern beobachtet und den Tieren akzeptiert, die ihn hier in dieser Gegend zwar nicht kannten, doch spüren konnten, wozu er in der Lage war.
Irgendwann fand er schließlich Aehrel. Der alternde Krieger saß steif im Laub, unbeweglich, sprach kein Wort dazu, als Rowilan sein erstes Erstaunen überwunden hatte und ihn bat, mit ihm zu kommen. Aehrel sagte nichts, reagierte schwerfällig, kam aber mit ihm – von einer Resignation erfüllt, die dem Schamanen beinahe Angst einjagte.
Zu viert kehrten sie demnach zur Siedlung zurück. Die Eichenleute ließen sie unbehelligt oder fanden sie nicht, warum konnte man nicht sagen. Jedenfalls wurde es eine schweigsame Heimreise, auf welcher kaum Worte fielen, bis endlich die sich im Aufbau befindenden