Aehrel. Es schauerte Aigonn bei jedem Mal, wenn er die Kälte hören konnte, mit welcher Rowilan den Namen ausspuckte. Die Jahre hatten eine tödliche Wut unter seinem Schädel wachsen lassen, die jeden Moment zu explodieren drohte. Es war das erste Mal, dass Aigonn glaubte, beurteilen zu können, wie sehr Rowilan Derona geliebt hatte. Und es berührte ihn genauso, wie es ihn noch immer beschämte. Er hatte dem Schamanen furchtbares Unrecht getan, als er geglaubt hatte, Rowilan selbst hätte seine Schwester in den Tod treiben können.
Doch auf eine gewisse Weise hatte die Klarheit etwas Erlösendes. Sie war der erste Schritt, mit einem Kapitel seines Lebens abzuschließen, das ihn lange belastet hatte. Nur noch ein einziger Schritt … Aigonns Gedanken schweiften ab. Er hatte seit ihrer Rückkehr nicht mehr mit Anation gesprochen. Sie hatte sich unmittelbar nach der Ankunft am späten Nachmittag zurückgezogen und war Aigonn seitdem nicht mehr unter die Augen gekommen. Nun, da der Abend dämmerte, konnte er sich nicht mehr allein mit dem Gedanken befriedigen, sie bräuchte Ruhe nach der großen Anstrengung. Das allein war es nicht. Anation war nicht mehr nur Anation. Sie war wieder Haelinon, ein ganzes Leben, das unvorstellbare vierundsechzig Jahre überdauert hatte. Etwas Derartiges konnte nicht binnen eines Tages aufgeholt und gleichzeitig verarbeitet werden. Aigonn war sich bewusst, dass ihn diese Dinge im Grunde nichts angingen. Doch je länger er wartete, desto schwerer fiel es ihm, sich zurückzuhalten.
„Du wirst ihr helfen, Aigonn, wenn du sie erst einmal mit ihren Gedanken allein lässt. Anation hat ein ganzes Leben zu verarbeiten, an dem du nicht einmal ansatzweise Teil hattest. Diese Prüfung muss sie ganz allein bestehen!“
Langsam drehte Aigonn den Kopf zur Seite. Rowilan stand zwei Schritte entfernt vor der Bettstatt, die Arme vor der Brust verschränkt, jedoch einen Ausdruck in den Augen, der keinerlei Strenge zeigte.
Aigonn schmunzelte matt, als er dem Schamanen entgegnete: „Haben die Götter dir beigebracht, die Gedanken anderer Menschen zu lesen?“
„Die Gedanken vielleicht nicht, aber ihre Gefühle. Du wirst es auch erlernen können, wenn ich endlich mit deiner Ausbildung beginnen darf!“
Diese Worte ließen Aigonn stutzen. Er brauchte einen kurzen Moment, um sich ihrer wahren Bedeutung bewusst zu werden, bis er nachhakte: „Ist das … ein Angebot?“
„Ein Angebot, dass ich seit sieben Jahren nicht zurückgenommen habe. Im Grunde bist du viel zu alt, um eine Unterweisung auch nur ansatzweise stattfinden zu lassen. Aber ich glaube, die Größe deiner Fähigkeiten erfordert es, ganz egal, welcher Meinung die alten Meister waren.“
Diese Zusicherung trieb Aigonn ein Lächeln auf die Lippen. Auf eine gewisse Weise hatte er nicht mehr daran geglaubt, nach allem, was geschehen war, dass Rowilan ihn dennoch als Schüler bei sich aufnehmen würde. Und er war froh darüber, nein, mehr als froh, dass der Schamane seine Meinung nicht geändert hatte. Doch obwohl er bereits die Lippen geöffnet hatte, um zuzusagen, überschattete seine Freude plötzlich ein einzelner Gedanke.
Rowilan bemerkte sein Zögern. Stirnrunzelnd legte er den Kopf schief, eine Frage auf der Zunge, die er jedoch nicht aussprach. Dann, einen Herzschlag später, sagte Aigonn: „Ich würde gerne von dir lernen, meine Fähigkeiten vernünftig zu gebrauchen, nur …“
„Nur was?“ Rowilans Lächeln war verschwunden. Der Nachgeschmack alter Enttäuschung hing zwischen ihnen – etwas, von dem beide geglaubt hatten, endlich damit abschließen zu können. Aigonn aber konnte nicht anders, als auszusprechen, was er dachte: „Ich weiß nicht, ob ich eine Ausbildung, wie du sie erhalten hast, auch an deiner Seite abschließen werde. Es ist nur ein Gefühl, ich weiß nicht woher es kommt, aber …“
„Schon gut.“ Der Schamane nickte. Nicht erfreut, aber verstehend. Aigonn selbst hatte noch keine geeignete Gelegenheit gefunden, Rowilan darüber aufzuklären, was in der Anderen Welt geschehen war – und dies war wohl der Grund für seine Reaktion. Schweigend lief Rowilan auf die Tür zu. In jenem Augenblick aber, da Aigonn glaubte, er würde wortlos hinausgehen und im Abend verschwinden, wandte er sich noch einmal um und sagte: „Verzeih mir, Aigonn!“
Die Überraschung, die dieser empfand, kam unvermutet.
„Verzeih mir, dass ich dich so bedränge. Ich kann spüren, dass du dir selbst die Schuld an dem gibst, was seit so vielen Jahren zwischen uns vorgefallen ist. Doch glaube mir, schuld allein bist du nicht. Ganz bestimmt nicht.“
Das Abendlicht verwandelte die blassen Farben des Tages in leuchtende, unwirkliche Töne, wenn es dann und wann zwischen der Wolkendecke hervorblitzte. Fast schien es, als wollten die Götter Haelinon ein Zeichen auf die Stirn malen, so warm fühlte sie das weichende Sonnenlicht. Und sie wäre dankbar dafür gewesen. Ein Zeichen war ein Zeichen; immerhin etwas. Ein Wegweiser in dieser Welt, die ihr auf einmal unendlich groß und undurchdringlich erschien. Sie war der blinde Wanderer. Sehend, aber für die Wirklichkeit blind.
Es war schwer zu sagen, wie sie sich fühlte. Die Erinnerungen ihres früheren Lebens hatten nicht an Intensität und Gewalt verloren. Der Bilderstrom wütete ungebremst in ihrem Kopf, hämmerte gegen ihre Schläfen und gönnte ihr keinen Moment des Innehaltens, in welchem sie all dies ordnen könnte.
Wer war sie? Haelinon. Sie war die Tochter des Moorsängers, jenes legendären Sehers, der vor beinahe einem Jahrhundert zu den Eichenleuten gekommen war, aus einem Land, dessen Namen irgendwo in ihrem Kopf umherwirbelte. Sie hatte so viel gewusst, so viel gelernt. Es erschreckte sie, wie viel davon trotz des Todes erhalten geblieben war. Der Umstand, dass sie wiedergeboren war, wurde nur daran kenntlich, dass die Verbindungen fehlten, die sinnvollen Zusammenhänge. Nicht alles hatte sie mitnehmen können. Und gerade deshalb wünschte sie sich mehr als je zuvor, dass der Moment des Erkennens niemals gekommen wäre.
Aehrel. Sie hatte ihrem einzigen Sohn den Kosenamen ihres Vaters gegeben. Allein einer ihrer Brüder und sie hatten den wahren Namen je erfahren, als der Moorsänger versonnen ins Erzählen gekommen war. Im Grunde hatte er wenig von seiner Vergangenheit berichtet, ganz so, als ob auch er sie gern abgeschlossen gewusst hätte. Damals hatte sie ihrem Kind einen Funken seiner Herkunft hinterlassen wollen, für die Tage, in welchen sie gestorben sein würde. So bald schon hatte sie damals damit gerechnet. Ihr Leben war abgeschlossen gewesen, vollendet, ihre Seele vorbereitet darauf, so viel wie möglich an ihrem Wissen mit ins nächste Leben zu nehmen.
Wer hätte ahnen können, dass es so weit kommen würde? Woher hätte sie die Bedeutung von Ungewissheit schätzen lernen sollen? Ungewiss waren die Leben derjenigen, die die Vergangenheit ihrer Seele bestenfalls erahnen konnten. Doch sie hatten die Chance, einmal neu zu beginnen, ihren Kopf von Vergangenem zu klären, Fehler im Gefühl ungeschehen zu machen. Vielleicht war diese Wahrheit die Strafe dafür, dass sie ihren einzigen Sohn im Stich gelassen hatte. Damals, heute, in diesem Moment. Der Gedanke allein brannte wie Glut in ihrer Kehle.
Aehrel. Er war heute beinahe vierzig Jahre alt – fast so alt wie sie damals, als sie ihn geboren hatte. Sie, Haelinon, Anation, wer auch immer sie war. Sein halbes Leben lang war er von dem Gedanken getrieben gewesen, seine Mutter aus dem Jenseits zurückzurufen, nur um die Antworten zu erhalten, die sie ihm immer schuldig geblieben war, bis vor kurzem.
Er würde dafür nun zahlen müssen. Haelinon war nicht entgangen, wie dieser Schamane, Rowilan, davon gesprochen hatte, ihn als Pfand gegen die gefangenen Leute ihres eigenen Stammes zu tauschen. Nein – nicht einmal mehr als Pfand. Er war zu einer Ware geworden. Ein Leben gegen Dutzende. Ein vernünftiger Tausch, ein fairer Tausch für jeden Bärenjäger. Hätte sie an Rowilans Stelle gestanden, sie hätte nicht anders gehandelt. Dieser Gedanke allein erschreckte sie.
Doch worin lag Aehrels Schuld? War es nicht sie gewesen, die all dies erzwungen hatte – aus Feigheit, in einer solchen Aufgabe zu versagen? Die Unermesslichkeit schnürte Haelinon die Kehle zu. Wie konnte sie hier so still sitzen, im warmen Gras, an eine Hauswand gelehnt, während ihr eigener Sohn seine Hinrichtung erwartete? Und dies in vollem Einvernehmen. Er hatte sich nicht