Der Herr Des Lebens, der Vater, stand neben dem Herren Des Waldes. Das ewige Rad schimmerte dort, wo Aigonn die Stirn eines Menschen sehen konnte, wenn er wollte: Geburt und Vergehen, Tod und Wiederkehr, der unendliche Kreis, den keine Macht dieser Welt jemals durchbrechen würde.
Die Kraft der Götter, die warm wie Sonnenstrahlen auf Aigonn hinabschien, überwältigte ihn. Er wusste nicht, was er sagen sollte – ob er überhaupt etwas zu sagen brauchte. Der Herr Des Lebens lächelte fein, als Aigonns Gefühle zu ihm hinüberströmten. Seine Stimme schien von allen Seiten zu hallen, als er sagte: „Willkommen, Wanderer! Wir freuen uns, dass ein Mensch mit deinen Fähigkeiten endlich wieder den Weg zu uns gefunden hat.“
Der Herr Des Lebens trat näher heran. Die unmittelbare Gegenwart seiner reinen, allmächtigen Kraft wollte Aigonn aus Respekt zurückweichen lassen, doch ein untergründiges Gefühl, das sie ihm sandte, hielt ihn zurück. Der Gott lächelte noch immer, als er sagte: „Wir haben auf dich gewartet. So vielen Menschen haben wir die Gabe geschenkt, der du dich dein Leben lang bedient hast. Aber du bist einer der wenigen, denen es gelungen ist, die Grenze zwischen den Welten im Leben zu überschreiten.“
„Ich …“ – Alles in Aigonn sträubte sich dagegen, Widerworte zu geben. Er konnte jedoch nicht anders, als zu sagen: „Ich bin gezwungen worden, es zu tun! Im Grunde habe ich mich dagegen gewehrt!“
„Oh ja, gezwungen wurdest du. Gezwungen, deinen Körper zu verlassen, den Weg ins Moor zu suchen, dich dem Tor zu stellen. Aber glaubst du nicht, ein Mensch deiner Kraft hätte die Macht besessen, vor dem Weltengang zu flüchten, wenn er es gewollt hätte?“
Aigonn wagte nicht, darauf zu antworten.
„Du hättest es nicht tun müssen, wenn du es nicht gewollt hättest. Dein Bewusstsein allein fällt nicht alle Entscheidungen! Dieser Mann, der den Übergang von dir forderte, hätte niemals die nötige Kraft, etwas zu erzwingen, das für gewöhnliche Menschen alle Gesetze der Welt sprengen würde!“
Er war im Recht, das konnte Aigonn spüren. Irgendein Gefühl, tief in ihm, erinnerte ihn daran, eröffnete, was sein Bewusstsein so nicht hatte erfassen können. Als der Herr Des Lebens nicht weitersprach, fragte er: „Warum erwartet Ihr mich?“
„Die Tatsache, dass nach so langen Jahren die Menschen wieder den Weg zu uns finden, bedeutet, dass es an der Zeit ist. Eurem Volk soll eine Gabe wiedergegeben werden, die ihr im Laufe der Generationen verloren habt.“ Für einen Herzschlag stoppte seine Rede. „Erst heute hat dir eine Seele einen Blick in das gegeben, was die Zukunft sein könnte.“
„Ja.“
„Möchtest du das wahre Sehen erlernen, Aigonn, und damit zu einem Weltenwanderer werden, der nicht nur Erinnerungen finden kann, sondern das Geschehen hinter ihnen; der erfahren kann, was die Zukunft vielleicht bringen mag und in der Vergangenheit geschehen ist?“
Es dauerte einen Moment, bis sich Aigonn die wahre Bedeutung dieser Frage erschloss. Und sie überforderte ihn. Als er seine Reaktion wahrnahm, fügte der Gott hinzu: „Dir droht keine Strafe, wenn du ablehnst, keine Missgunst, nichts. Du wirst all deine Fähigkeiten behalten, die du bisher hast nutzen können und darüber hinaus. Bist du dazu nicht bereit, wissen wir, dass du nicht der Richtige bist!“
Aigonn schluckte. In Gedanken wiederholte er dutzende Male dieses Angebot. Angebot. Der Herr Des Lebens selbst hatte ihm soeben das Angebot unterbreitet, ihm die Fähigkeit zu schenken, in die Zukunft zu sehen! Wie konnte er das ablehnen? Doch weit in seinem Hinterkopf hörte er eine leise Stimme Zweifel murmeln. Es klang unsicher, als er nachhakte: „Was ist der Preis?“
Der Gott lächelte milde und schenkte Aigonn damit eine Klarheit, die er lieber nicht erfahren hätte. „Das wusstest du schon, bevor du nur ahntest, die Grenze zwischen den Welten zu überschreiten.“
Und damit wurde es gewiss. Er war ein Seher und hatte die Worte des Moorsängers vernommen, der lange Jahre vor ihm diese Fähigkeit besessen hatte. Schon in diesem Moment hatte ein Teil von ihm sich danach gesehnt, es gespürt, die Gabe, die gleichsam Segen wie Fluch war, und manchmal auch keines von beiden; dreigesichtig, wie das Leben und das Sein.
Als hätte er sich sein Leben lang auf diesen Moment vorbereitet, fühlte Aigonn auf einmal eine klare, zielstrebige Sicherheit in seinem Denken und Tun, die er so nicht von sich kannte. Überzeugung, nach außen hin vielleicht nicht gefestigt, doch in seinem Innersten unumstößlich, begleitete seine Worte: „Mit Eurem Segen werde ich es tun.“
Licht flammte auf. Die Gewissheit in seinem Geist spiegelte sich im Gesicht des Gottes, als er noch näher kam, Aigonns Seele eins wurde mit seiner Kraft. Er wollte nicht denken, er brauchte es nicht. Von Vertrauen erfüllt schloss er seine Augen und begann zu fühlen, was Ewigkeit bedeutete.
Anation ging neben Rowilan und Aigonn in die Knie. „Geh beiseite!“ Der Schamane machte ihr Platz. Seine Augen musterten die junge Frau durchdringend, während sie sich zu Aigonn hinunterbeugte, ihr Gesicht sich dem seinen immer weiter näherte. Als ihrer beider Atem sich jedoch traf, hielt sie inne.
Anation. Dieser Name hallte in ihrem Kopf. Er erinnerte sie daran, was sie getan, was dieses Leben, dieses, bisher ausgemacht hatte. Es lag an ihr, Aigonn zurückzuholen. Sie wusste es. Ihre Aufgabe wurde zu einer Verantwortung, die ihr das Atmen schwer machte. Aigonn. Behutsam legten sich ihre Hände auf seine Wangen. Die fast todesgleiche Kälte seiner Haut wollte sie im ersten Moment zurückzucken lassen. Doch sie riss sich zusammen.
Sie sandte all ihre Sinne aus. Anations Geist löste sich so mühelos von ihrem Körper, dass sie fast einen Rückzug versuchen wollte. Der pulsierende Lebensfaden aber, der von Aigonn hinweg durch die steinernen Wände der Grotte, über den Wald hinaus bis ins Moor reichte, ließ Zweifel zu Funken verglühen. Ihre Gedanken standen still, als sie den warmen, dünnen Lichtstrahl erfasste, sich an ihm entlang tastete, hinaus, in den Wald. Das Gewicht der Welt war nicht mehr vorhanden. Von Schwerelosigkeit beflügelt, schwebte ihr Geist davon. Je näher sie dem Moor kam, desto mehr spürte sie die vibrierende Macht des Tores, das in dem Moorauge geöffnet den Weg in die Andere Welt bot. Ungewohnt, aber vertraut.
Erst in diesem Moment, da die Kraftströme des Tores nach ihr zu greifen begannen, reserviert, aber neugierig, als wäre es ein ganz eigenes Bewusstsein, bremste Anation ihr Vordringen. Hier war die Grenze. Sie würde den Übergang nicht wagen dürfen. Die Götter würden es nicht zulassen, dass sie die Grenze zur Anderen Welt überquerte. Doch sie hatte schon früher gelernt, welche Gefahren ihr drohten, abgesehen davon. Sie konnte die Orientierung verlieren, die Verbundenheit mit ihrem Geist. In der Welt der Menschen konnte sie verloren sein, während ihr Körper einen Kampf führen musste, den er nicht gewinnen konnte. Wenn das Band riss, würde sie selbst die heimatlose Seele sein. Es gab schlimmere Wege zu sterben als durch Folter und Hinrichtung.
Weit entfernt fühlte Anation, wie ihr Herz vor Aufregung gegen den Brustkorb hämmerte. Als hätte man die Verbindung zwischen Aigonns Seele und seinem Körper längst gelöst, ertastete sie die unsichtbare Grenze der Menschenwelt, die sie zweifeln ließ, ob sie ihn überhaupt erreichen konnte.
Nach einem Moment des Innehaltens nahm Anation all ihre Kraft zusammen. Sie schickte ihre Sinne aus, versuchte so weit sie konnte an die Grenze heranzutreten. Dann schrie ihre Seele mit aller Gewalt einen Namen in die Andere Welt: „AIGONN!“
„Es ist an der Zeit.“
Es fiel Aigonn schwer, seine Gedanken auf die Welt um ihn zu richten. Das Gefühl, das er empfand, hatte keinen Namen. Er wusste es, und eben deshalb versuchte er erst gar nicht, es mit menschlichen Worten zu umschreiben.
Die Götter hatten zu verblassen begonnen. Seine Stimme schien präsenter als seine Gestalt, als der Herr Des Lichtes aussprach: „Die Zeiten werden sich ändern. Noch nie stand