„Ich werde zu Khomal reisen, selbst. Wir können vorher einen Boten schicken, wenn du es für besser hältst. Aber über die eigentlichen Angelegenheiten will ich selbst verhandeln, ich, jetzt, da Behlenos tot ist.“
Langsam schritt Rowilan über die Strohmatten seines kleinen Hauses hinweg. Sein Blick wirkte nach innen gekehrt. Obwohl er die Stimme immer wieder an ihn richtete, schien er Nawos kaum zu beachten, der sich auf einem Schemel niedergelassen hatte. Im Gegensatz zu diesem wusste Aigonn sehr gut, was er davon halten sollte – sah man von der Tatsache ab, dass es ihn weniger interessierte, als er eigentlich wollte. Die Stimme des Schamanen schien von weit weg zu kommen, obwohl Aigonn keine zwei Fuß weit von ihm entfernt auf Rowilans Bettstatt saß und die Mimik des Schamanen versonnen beobachtete.
Behlenos war tot. Diese Nachricht hatte sich innerhalb der Siedlung schneller verbreitet als die von Anations Rettung und Aehrels Verbrechen. Binnen kürzester Zeit hatte man eine Versammlung einberufen und Rowilan die Macht erteilt, bis zur Wahl eines neuen Fürsten die Verantwortung für das Dorf zu übernehmen. Aehrels Schicksal im Gegenzug war schon beschlossen gewesen, längst bevor man darüber hätte abstimmen können. Er hatte junge Menschen getötet, mit Derona sieben an der Zahl. Dass es im Grunde nicht seine Absicht gewesen war, spielte vor diesem Hintergrund keine Rolle. Er hatte ihren Tod billigend in Kauf genommen, und Aigonn beschäftigte sich noch immer damit, wie er diese Tatsache auffassen sollte.
Vielleicht aus diesem Grund war er Rowilan gefolgt, als dieser Nawos, einen greisen und erfahrenen Berater des Behlenos, der seit jeher großen Einfluss genoss, zu sich gerufen hatte, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
Nawos zeigte sich Rowilans resoluter Vorgehensweise gegenüber verhalten, schwieg jedoch zunächst. Der Schamane nutzte die Gelegenheit, um seine Gedanken weiter auszuführen: „Nach dem, was Aigonn berichtet hat, will Khomal allein den Mörder der sechs jungen Eichenleute. Jetzt, da Behlenos tot ist, hätte er mit Aehrels Auslieferung das, was er wollte. Auch wenn ich befürchte, dass er seine Macht weiter ausspielen wird. Khomal ist kein Mann, der schnell aufgibt, erst recht nicht, wenn er etwas in der Hand hat. Deshalb sträubt sich auch ein Teil von mir dagegen, ihm allein Aehrel zu überlassen, obgleich wir selbst mit ihm abrechnen sollten. Wenn wir als Gegenleistung allerdings damit die Freiheit unserer Leute erkaufen können, soll es mir recht sein.“
„Und du glaubst, er wird noch mit uns verhandeln?“, warf Nawos ein. Der alte Mann hatte sich vorgebeugt, einen Arm auf sein linkes Bein gestützt, während er den Schamanen kritisch beäugte. „Du und diese sieben mutigen Krieger, die Götter mögen sie in Ehren aufgenommen haben, habt ihn bei einem bedeutenden Ritual angegriffen und diese Frau befreit, die er fürchtet wie niemanden sonst. Sie … Lhenia …, ich bezweifle, dass er sich auf einen Handel einlassen wird, solange sie unter uns weilt.“ Mit diesen Worten huschte sein Blick kurz zu Aigonn, der aufgesehen hatte und ihn nun scharf beobachtete.
Das Gefühl, ein blindes Auge zu haben, war für ihn noch ungewohnt. Er blinzelte rechts oft heftiger als links, als könnte dies etwas an der Gewissheit ändern, die er längst angenommen hatte. Ihm war bisher kaum Zeit verblieben, sich darum zu kümmern, was er aus der Anderen Welt mit sich gebracht hatte.
Die Nachwirkung des Trankes, den Aehrel ihm eingeflößt hatte, beschwerten jede seiner Bewegungen, wollten ihn in erholsamen Schlaf geleiten, doch sein Geist war zu aufgewühlt, um seinem Ruf zu folgen. Schlafmohn hatte Rowilan die Pflanze genannt, die seinen Geist willenlos gemacht hatte. Er war eine der heiligen Pflanzen, deren Verwendung ausschließlich den Schamanen vorbehalten war. Weder Rowilan noch er konnten sich erklären, woher Aehrel den Schlafmohn genommen hatte. Doch ganz egal auf welche Weise, allein die Tatsache seiner Dreistigkeit hätte genügt, ihn grausam zu bestrafen.
Diesen Dingen aber widmeten die Dorfbewohner sich nicht. Stattdessen bemerkte Aigonn häufig, dass man ihm auf Grund des blinden Auges noch reservierter begegnete als bisher.
Der Greis wandte seinen Blick schnell ab. Aigonn hatte sich sein neues Abbild erst einmal in der Spiegelfläche eines Teiches ansehen können. Doch selbst ihm war dabei aufgefallen, dass seine Erscheinung auf einen Fremden beängstigend wirken konnte. Die weiße Haut seines blinden Auges war so makellos gewachsen, als wäre er damit geboren worden. Sah man es jedoch genau an, schien es noch so, als hätte die Iris darunter nie an Schärfe und Sehkraft verloren; es schien nun vielmehr und viel eindringlicher die Welt um sich zu beobachten – nein, nicht mehr nur zu beobachten, gerade fremde Menschen viel eher zu durchbohren. Von den schwarzen Schatten großer Anstrengung untermalt, schien Aigonn somit um Jahre gealtert. Und je länger er Zeit fand, um zur Ruhe zu kommen und das kürzlich Erlebte zu überdenken, desto mehr schien es ihm, als wäre die Belastung dafür nicht der einzige Grund.
Rowilan für seinen Teil entgegnete Nawos auf seinen Einwand nur einen vielsagenden Blick, der Aigonns Vermutung bestätigte, dass seine Gedanken nicht wirklich bei der Sache waren.
„Wir können nicht mehr tun, als ihm dieses Angebot zu unterbreiten. Da Fewiros noch immer keinen einzigen Boten geschickt hat, können wir nicht davon ausgehen, dass in nächster Zeit Hilfe für eine kriegerische Durchsetzung unserer Forderungen kommen wird. Wir haben keine Wahl! Wer weiß, was mit unseren Leuten geschieht, wenn wir noch länger warten. Khomal wird, wie du bereits sagtest, über den Zwischenfall nicht erfreut gewesen sein.“
„Allerdings!“ Diesmal sagte allein der Ton in Nawos’ Stimme mehr als jedes Wort. Warum musstet ihr ausgerechnet diese sonderbare Frau retten, die Lhenia ist, aber auf eine gewisse Weise doch nicht? Was führt ihr drei im Schilde, dass keiner von euch uns einweiht und wir unser Leben vertun, ohne zu wissen wofür?
Der Blick, der den Greis daraufhin von Aigonns Seite her traf, ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Auf eine gewisse Weise konnte er ja verstehen, was die Menschen des Dorfes bewegte. Nawos selbst hatte den großen Angriff nur unter Verlust eines Armes überstehen können, dessen Stummel er mit aller Würde wie eine Trophäe trug. Die Tatsache, dass er an dem Blutverlust fast gestorben wäre, war unwichtig für ihn.
Rowilan, Aigonn und Anation hatten gemeinsam beschlossen, besser nie jemandem davon zu erzählen, dass es nicht mehr Lhenias Seele war, die ihren Körper bewohnte, und schon gar nicht, wer an ihre Stelle getreten war. Ebenso schwiegen sie über Aehrels wahre Beweggründe und waren dankbar dafür, dass er ihnen dabei nicht in den Rücken fiel. Im Grunde tat er nichts, um sich zu verraten. Den Mantel des stillen Hinnehmens, der ihn seit der Heimreise umhüllte, hatte er nicht mehr abgelegt. Man hatte den Krieger in einem der halb zerstörten Häuser gefesselt und angebunden – auch wenn Aigonn selbst es für unnötig befand. Aehrel leistete keinerlei Gegenwehr und sprach ebenso wenig. Wann immer Aigonn einen Blick in diesen Raum gewagt hatte, hatte sein Onkel stumm ins Leere gestarrt, verschlossen und undurchdringlich, als hätte man ihn eines Teils seiner Seele beraubt. Und vielleicht war dies wirklich auf eine gewisse Weise geschehen.
Aigonn selbst überforderte es, seine Gefühle in die richtigen Bahnen zu lenken. Das Entsetzen über die Ungeheuerlichkeit von Aehrels Taten, des Mannes, der Aigonn und Efoh ein halbes Leben lang groß zu ziehen versucht hatte, schien das Fassungsvermögen seines Schädels zu sprengen. Er sehnte sich danach, wieder seinen Körper zu verlassen, die Grenzen des Menschlichen zu überschreiten, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und gleichzeitig den Schmerzen zu entgehen, die ihn fast schlimmer plagten als zuvor. Die Rippe, der Arm; die großen körperlichen Belastungen hatten sie kaum heilen lassen.
Rowilans Stimme klang in Aigonns Ohren fast störend, als der Schamane weitersprach: „Wir müssen es versuchen; es bleibt uns keine andere Wahl! Mit Krieg allein können wir sie nicht befreien. Ein solches Unterfangen wäre sinnlos! Wenn wir noch länger warten, wird er sie womöglich in die Leibeigenschaft zwingen, vielleicht sogar bei einem ganz anderen Stamm. Uns rennt die Zeit davon!“
„Nun gut.“ Nawos’ verkniffene Lippen verrieten das Missfallen über Rowilans so spontan entwickelten Plan. Doch da er scheinbar keine bessere Lösung zu bieten hatte, meinte er: „Schick einen Boten zu Khomal. Vereinbare mit ihm einen Treffpunkt, um Aehrel gegen unsere Leute einzutauschen!“
Damit erhob er sich von dem Schemel, nickte den beiden Männern zum Abschied zu und verschwand in den wolkenverhangenen Sommertag.