Dort hielt Rowilan inne. Auf dem Hocker saß Behlenos. Der Fürst begann schelmisch zu grinsen, als er sich endlich der Aufmerksamkeit seines Schamanen gewiss war. Rowilan hingegen legte die Stirn in Falten.
„Du weißt, ich mag es nicht, wenn du ohne meine Erlaubnis dieses Haus betrittst!“
„Und du hast noch nie so lange gebraucht, um meine Anwesenheit zu bemerken! Dieser Junge muss dich ganz schön geärgert haben.“
Rowilan schüttelte mit dem Kopf. „Es ist nicht zu fassen. Ich kann gar nicht verstehen, was dir Grund zu solcher Gelassenheit gibt.“
„Die Dinge gelassen zu betrachten, bedeutet nicht, ihnen weniger Bedeutung zuzuweisen. Hast du etwas ausrichten können? Wenigstens eine Kleinigkeit?“
Auf Behlenos’ Frage hin stieß der Schamane angespannt die Luft aus. Der Fürst war nicht viel älter als er selbst. Sie standen beide kurz vor dem dreißigsten Lebensjahr. Während jedoch Behlenos’ athletischer Körper Schwielen und Überbelastungen aufwies, die mehr einem Bauer als einem Krieger entsprachen, war der hagere Schamane schlank wie ein Jüngling. Hätte er Zeit und Geduld, sich den struppigen, unsauberen Bart aus dem feinzügigen Gesicht zu schneiden, könnte er den Lichtfeen nacheifern, wenn er wollte.
„Er ist beharrlich und stur, wie eh und je. Zwar hat Aigonn gestanden, dass er die Andere Welt sehen konnte, als ich das Tor geöffnet habe. Aber ich glaube immer noch, dass er mir nur die halbe Wahrheit erzählt. Es ist zum Verzweifeln!“
„Moribe hatte schon immer großen Einfluss auf ihre Kinder. Als sie nach Deronas Tod den Verstand verloren hat, konnte Aigonn ja gar nicht anders, als alles Vertrauen in dich zu verlieren.“
„Dass diese Menschen immer noch glauben, ich hätte sie geopfert!“ Die Wut hatte Rowilan eingeholt. So oft er diese Worte auch ausgesprochen hatte, sie brannten in seinem Mund wie beim ersten Mal. „Ich habe diese Frau geliebt! Derona wäre die Gefährtin an meiner Seite gewesen, nach der ich mein Leben lang gesucht habe! WEISST DU, WAS ICH GEBEN WÜRDE, WENN ICH SIE ZURÜCKHOLEN KÖNNTE?“
„Ich weiß es.“ Behlenos’ Tonfall änderte sich kaum. „Du warst damals ein sehr junger Schamane, kaum aus der Lehrzeit entlassen. Ich selbst habe meinen Vater ermahnt, dass du noch nicht reif genug sein könntest, um gleich die höchste Position deines Standes zu übernehmen.“ Diese Worte versetzten Rowilan einen Stich. Widerwillig spürte er seine Lippe zucken, als der Fürst weitersprach: „Aber du warst gut, besser als viele andere. Ich kannte dich, und du weißt, dass ich dir immer vertraut habe. Doch es ist nicht das erste Mal gewesen, dass ein geliebter Mensch zugunsten deines Wissensdurstes auf der Strecke geblieben ist. Und bis heute bist du der einzige, der weiß, weshalb Derona sich in den Tod gestürzt hat!“
„ICH WEISS ES NICHT, BEI ALLEN BÖSEN GEISTERN DIESER WELT!“
„Wirklich nicht?“ Behlenos erhob sich. Als ob der zornesrote Schamane vor ihm ein brüllendes Kind wäre, lief der Fürst ungerührt in Richtung Tür und verharrte dort nur kurz, um zu sagen: „Du weißt, was wir beschlossen haben. Mir ist es egal, mit welchen Mächten du dich anlegst, solange es uns nicht schadet. Denn ich weiß, dass es dir nicht aus den Händen gleitet. Aber bitte bring diesen Jungen unter deine Kontrolle, bevor etwas Schlimmeres passiert als der Verlust seines Lebens!“
Damit ging der Fürst. Rowilan starrte ihm mit geweiteten Augen nach, der Atem bebend, als wäre er über die Wiesen gerannt. In seinem Kopf tobte es. Er brauchte drei tiefe Atemzüge, bevor er aufsprang, zur Tür rannte, aber dort verharrte. Behlenos war gerade zwischen den ersten Häusern des Dorfes verschwunden. Der Bach plätscherte ungerührt in den Tag hinaus, während der wolkenlose Himmel werdende Sommerhitze versprach.
Rowilan wusste nicht, was er tun sollte. Der Zorn wurde zu einer Ohnmacht, die ihn nur noch mehr in Rage brachte. Gerade wollte er die Tür hinter sich zuschlagen, als eine Stimme ihn aufhielt: „Rowilan!“
Der Schamane wandte sich um. Aehrels bärtiges Gesicht blickte ihm von der Dorfseite aus entgegen, während die linke Hand des Kriegers das Leinen seines Hemdes knetete. „Du wolltest mich heute nach der Prozession sprechen, damit ich dir zur Hand gehen kann. Wenn du aber lieber für dich sein willst, werde ich …“
„Nein, nein.“ Rowilan mäßigte sich gezwungen. „Ich lasse mir von diesem Narr nicht alles aus dem Ruder werfen, das ich anpacken wollte. Komm mit hinein!“
„Vielleicht solltest du mich zuerst zum Tor begleiten. Was der Wachposten dort entdeckt hat, könnte dich interessieren!“
„Was soll das sein?“ Rowilan horchte auf. Der alte Krieger sprach jedoch nicht weiter, sondern winkte den Schamanen nur zu sich und folgte dem Weg zum Ausgang der Siedlung.
Versprochen hatte Aehrel nicht zu viel. Rowilans Augen weiteten sich einen Augenblick, als er an die Seite des Wachpostens – oben auf dem Wehrgang – getreten war und nun hinunter auf die Wiese schaute.
„Soll ich sie einlassen?“ Der junge Krieger blickte unsicher immer wieder nach unten und von dort zurück zu seinem Schamanen. Dieser jedoch antwortete nicht.
Vor dem Tor stand Lhenia. Rowilan erkannte ihr Äußeres, auch wenn er nicht sagen konnte, was sich an ihr verändert hatte. Denn etwas gab es. Ruhig sah sie zu den drei Männern hinter den Palisaden hinauf, zu welchen sich immer mehr Schaulustige gesellten. Mit faltiger Stirn musterte Rowilan sie. Es war Lhenia. Doch auf eine gewisse Weise auch nicht. Vielleicht war es der Ausdruck in ihren Augen. Ein unheimlicher Schimmer, nicht menschlich, nicht einmal irdisch, schien von ihr auszugehen. Es war eine Aura, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Der Schamane konnte nicht sagen, wie ein Mensch sich veränderte, wenn er die Andere Welt gesehen hatte. Aber Lhenia hatte es, da war er sich sicher.
„Öffne das Tor!“, gebot er dem Wachposten und folgte diesem die Palisaden hinunter. Ein feines Lächeln umspielte die Lippen der jungen Frau, als man ihr Einlass gewährte. Der Schamane war wider Willen bereits von einer Horde neugieriger Kinder umgeben, die erwartungsvoll zwischen den Beinen ihrer nicht minder angespannten Eltern hervorlugten. Mit einer unwirschen Handbewegung hielt Rowilan die Menge auf Abstand, als sich das Tor zur Gänze geöffnet hatte und er nun die Frau von Angesicht zu Angesicht sah, die sie auf wundersame Art und Weise alle gerettet hatte.
„Sei gegrüßt, mein Kind.“ Ungewollt schauerte es den Schamanen ein zweites Mal. Obwohl Lhenia sich teilweise gewaschen und scheinbar mehrere Nächte unter freiem Himmel verbracht hatte, waren ihre Kleider noch immer dieselben, mit denen sie vor die Götter der Anderen Welt getreten war. Blut klebte braun und angetrocknet überall auf dem verdreckten Leinen, als wäre sie eine der Todesfeen, die vor jeder Schlacht die Hemden der Todgeweihten wuschen. Die Wangen waren noch immer gerötet vom heiligen Ocker. Sie trug die geweihte Farbe der Geopferten wie eine Kriegsbemalung, während sie ruhig und berechnend zu Rowilan aufsah.
Der Schamane spürte, dass Lhenia versuchte, sich zu geben, wie sie früher gewesen war – zu tun, als ob nie etwas Sonderbares geschehen wäre. Doch sie war nicht in der Lage dazu. Lhenia war anders, anders als früher. Rowilan spürte es, und noch mehr bereitete ihm Unbehagen, dass dieses junge Mädchen mit einer solchen Situation erstaunlich gelassen umzugehen schien.
Als ihm allmählich bewusst wurde, wie unverhohlen er Lhenia musterte, löste Rowilan sich aus seiner Erstarrung und forderte sie auf: „Nun komm doch herein! Niemand hat dich verstoßen, nur weil die Götter dir ein besonderes Schicksal auferlegt haben. Wir sind froh, dass du zu uns zurückgekehrt bist!“
Damit ging er auf Lhenia zu und breitete die Arme zum Willkommensgruß aus. Zögerlich erwiderte die junge Frau seine Geste. Rowilan spürte Unsicherheit, Verkrampfung, sodass Lhenia sich schnell wieder löste.
Der Schamane lächelte warm und legte väterlich eine Hand auf ihre Schulter. „Und nun folge mir! Du hast viel erlebt und bist sicherlich erschöpft. Es gibt keinen Grund, dass du hier stehst wie eine Fremde!“
Wenn du wüsstest! Die Mundwinkel der jungen Frau zuckten so unmerklich,