In sicherem Abstand standen die Menschen um ihn herum. Efoh war der einzige, der nur mit Bestürzung, nicht mit namenloser Angst zu ihm hinabsah. Für einen Herzschlag glaubte Aigonn, die Zeit würde einfrieren, bis Rowilan langsam die Menge teilte und vorsichtig auf ihn zukam.
Der Schamane schwankte – ganz gleich, wie gern er diese Tatsache verborgen hätte. Die Wirkung des heiligen Göttertrankes war kaum von ihrem Höhepunkt abgeklungen, sodass seine Augen fern und geweitet wirkten.
Mit einem undeutbaren Ausdruck sah der Schamane zu ihm hinab, bevor er vor Aigonn in die Knie ging. Schweigend fischte seine Hand eine Faust breit neben Aigonns Kopf nach einer unsichtbaren Substanz, die niemand außer ihm zu sehen schien. Einen Herzschlag lang schienen die Augäpfel aus seinen Höhlen zu fallen, bevor er sich fing, schwankend aufstand und mit klarer Stimme verkündete: „Habt keine Furcht! Das … das Böse umgibt ihn nicht mehr!“
Aigonn glaubte ein Aufatmen zu hören, aber dennoch kam niemand näher. Endlich gelang es ihm, mit heiserer Stimme hervorzupressen: „Was … war das … das Böse?“
„Das kann ich dir selbst nicht sagen!“ Rowilans Miene wurde plötzlich so finster, dass es Aigonn schauerte. „Aber du, junger Mann, entkommst mir kein weiteres Mal. Jetzt ist Schluss mit deinen Spielereien!“
Der Schamane
Schweigend kehrten die Bärenjäger zu ihrer Siedlung zurück. Efoh war der einzige, der Aigonn stützend neben sich herschleppte, während diesem immer wieder die Beine wegbrachen. Der junge Krieger ging unter dem Gewicht seines Bruders beinahe in die Knie. Doch außer Rowilan, der mit düsterer Miene vor ihnen herlief, wagte sich niemand näher als zwanzig Fuß an die Spitze der Prozession heran.
Mehrmals hatte Aigonn mit einer Ohnmacht zu kämpfen, bis die Palisaden des Dorfes in Sicht kamen. Die beiden Wachposten, die zurückgeblieben waren, empfingen ihre Sippenmitglieder mit verwunderten Blicken und wagten erst, Fragen zu stellen, als Aigonn, Rowilan und Efoh endlich das Haus der beiden Brüder erreicht hatten.
Erschöpft stolperte Aigonn über die Schwelle. Obgleich die schwüle, rauchgeschwängerte Luft im Inneren wie Holzspäne in seiner Kehle scheuerte, fühlte er doch die alte Sicherheit, die dieses Haus seit Kindertagen auf ihn ausstrahlte. Leise drang das Singen seiner Mutter durch den Raum. Kein Laut verriet, dass sie die Ankunft ihrer Söhne wahrnahm – auch nicht, als diese mit Rowilan bis zum Herdfeuer liefen.
Der Schamane nahm sich nicht die Zeit, die Hausherrin zu grüßen. Ungeduldig wartete er, bis Efoh seinen Bruder auf einem der Felle abgesetzt hatte, bevor er sich vor ihm aufbaute und zu sprechen begann: „So, mein junger Freund! Wenn du glaubst, weiterhin auf eigene Faust Kräfte zu erwecken, die du nicht kontrollieren kannst, unterschätzt du mich sehr!“
Rowilan sprach nicht laut, aber die Drohung war unverkennbar. Aigonns Blick flackerte, als ob er das Bewusstsein verlieren würde. Der Schamane aber gab ihm diese Gelegenheit nicht.
Mit einem Schlag auf die Wange brachte er Aigonn in die Wirklichkeit zurück. Dieser wollte protestieren, aber Rowilan schnitt ihm das Wort ab: „Verstehst du, was ich sage? Weißt du, in welche Gefahr du uns alle bringen kannst?“
„Ich habe nichts getan!“ Aigonn war nicht wach genug, um dieses Wortgefecht zu bestreiten. Das eisige Brennen in seiner Kehle hatte nachgelassen, machte jedoch keine Anstalten, ihn zu erlösen. Immer wieder verschwammen die Bilder vor seinen Augen, während er Rowilan zornesrot anlaufen sah und der Schamane seine Beherrschung verlor:
„ELENDER, VERBISSENER LÜGNER! Wann akzeptierst du endlich, dass ich dir nicht schaden will, sondern uns alle nur vor einem gewaltigen Unheil bewahren! WAS HAST DU GETAN? WIE HAST DU DIESES BÖ-SE, WAS IMMER ES SEIN MAG, GERUFEN? WELCHE GEISTER HAST DU ERWECKT?“
„BEI ALLEN GÖTTERN, ICH TRAGE DARAN KEINE SCHULD!“ Nach diesem Schrei brannte es Aigonn so sehr im Hals, dass er röchelnd zu husten begann. Efoh war vor Schreck aufgefahren und besann sich erst langsam, dass er zwei Becher voll Bier in den Händen hielt. Selbst ihrer beider Mutter war für Bruchteile eines Augenblicks zusammengezuckt und hatte in die Richtung ihres ältesten Sohnes gesehen, als hätte die Wirklichkeit sie endlich wieder für sich gewinnen können. Doch der Schein trog. Weder Aigonn noch Efoh bemerkten, wie sie sich wieder abwandte und in die Apathie verfiel, die ihre eigene Art zu leben war.
Der Aufschrei hatte Rowilan zum Schweigen gebracht. Finster wartete der Schamane, bis Aigonn zu Atem gekommen war und ließ ihm Zeit, nach einem Schluck Bier endlich seine Sicht der Dinge zu erläutern. Aigonn hatte die Augen halb geschlossen, als er mit gequälter Stimme erzählte: „Ich habe niemanden gerufen! Ich habe lediglich der Prozession beigewohnt, bis die Götter unsere Wünsche erhört haben und die Tore zur Anderen Welt aufgegangen sind. Dazu habe ich gar nichts beigetragen, nichts! Ich habe nur gewartet und mitgesprochen, nichts sonst!“
„Gar nichts?“ Rowilan blieb skeptisch. „Du hast auch nicht zufällig versucht, mit einem kleinen, selbstgebrauten Trank deine Sinne zu erweitern? Oder einem Händler irgendein Wundermittelchen abgekauft?“
„Nein, so glaubt mir doch! Ich brauche so etwas gar nicht. Es ist ganz egal, wohin ich gehe, sobald die Grenze zwischen den Welten dünner wird, kann ich die Kraft dieser Orte spüren, auch die der Anderen Welt. Ich habe es kaum ertragen können, als sich das Tor geöffnet hat. Dieses … dieses Wesen, was immer es sein mag, hat mich einfach überfallen.“
Rowilan schwieg nachdenklich. Obgleich sich die finstere Miene tief in sein Gesicht eingefurcht hatte, schien er Aigonn allmählich Glauben zu schenken. Prüfend überflog sein Blick die Gestalt seines Gegenübers, als er sich endlich vor Aigonn auf den Fellen niederließ und anmerkte: „Dass du große Kraft besitzt, weiß ich. Das wusste ich schon lange. Wenn deine Mutter es zugelassen hätte, wärst du jetzt vielleicht schon bereit, meine Nachfolge anzutreten, wenn mir etwas zustoßen würde. Doch ich kann nicht verstehen, warum irgendein Geist aus der Anderen Welt dich angreifen oder dir schaden will. Sicherlich mag es solche geben, die uns Menschen nicht wohlgesonnen sind. Aber sie würden niemals jemanden angreifen, der ihre Macht so deutlich vor sich sehen kann. Das bringt ihnen keinen Vorteil – schon gar nicht, wenn du nicht versuchst, sie zu jagen. Oder hast du so etwas probiert?“
Der scharfe Ton entlockte Aigonn ein genervtes Schnaufen. Er hatte überhaupt keinen Sinn dafür, Rowilan jetzt sein Herz auszuschütten. Es gab keinen Grund dafür, dem Schamanen zu vertrauen. Er wusste genug und hatte vor allen Dingen genug gesehen, um ihm zu misstrauen – ganz gleich, wie sehr ihn diese Geschehnisse ängstigten. Die Nebelfrau würde Rat wissen. Er würde mit ihr sprechen, gleich heute schon.
Als Rowilan keine Antwort erhielt, drängte der Schamane weiter: „Aigonn, glaub mir doch endlich, dass du beginnen musst, deine Fähigkeiten kontrollieren zu lernen! Es ist nicht zu spät, noch immer mein Schüler zu werden! Wenn du mir vertrauen und mir erlauben würdest, in einem Ritual deinen Gedanken beizuwohnen, sehen zu können, was du siehst, dann könnte …“
„NEIN!“ Plötzlich war Aigonn das Wesen, das versucht hatte, seine Seele in die Andere Welt zu ziehen, völlig egal. Eine uralte Welle des Misstrauens und der Abscheu überkam ihn so unvermittelt, dass jegliches Verständnis für Rowilan zu Staub zerfiel. Er wollte es noch immer. Dieser Mann hatte die Hoffnung auch nach all den Jahren nicht aufgegeben, dass er eines Tages Aigonns Kräfte würde kontrollieren können. Mehr wollte der Schamane doch nicht!
„Nein, Ihr kommt nicht in meinen Kopf! Niemals! Das lasse ich nicht zu!“
Die Hoffnung bröckelte aus Rowilans Gesicht wie trockener Schlamm. Wutentbrannt sprang der Schamane auf. Die Zornesröte schoss ihm in die Adern, dass er wie ein tobender Stier über Aigonn stand. Und in seiner Stimme lag nicht nur Wut, sondern auch Enttäuschung, als er durch den Raum schrie: „IHR GÖTTER HELFT MIR! Wann begreifst du endlich, dass ich nicht die Schuld am Tod deiner Schwester trage! Ich habe nichts getan! Nichts hat darauf hingedeutet, was sie geplant hat. Denkst du nicht auch, dass es mich ebenso schlimm getroffen hat wie dich selbst?“
Nein, dachte Aigonn. Und sein Blick spie puren Hass. Einen Herzschlag lang