Der Blick des Jungen blieb starr auf Degenar gerichtet. Man hätte glauben können, der Knabe habe die Worte nicht vernommen. Degenar sprach jedoch ruhig weiter: „Kannst du uns deinen Namen nennen? Weißt du, wie du heißt und woher du kommst? Wer sind deine Eltern?“
Ein leichtes Kopfschütteln war die einzige Antwort des Knaben. Zunächst war der Abt darüber enttäuscht, doch sollte das Kind sich tatsächlich an nichts mehr erinnern, würde das die Angelegenheit erleichtern. Ein Junge ohne dieses Wissen würde sich nicht selbst verraten können. Zuversichtlich sprach der Abt weiter.
„Aber irgendwie müssen wir dich doch ansprechen. Was hältst du von dem Namen Faolán? Gefällt er dir? Er stammt von einer fernen Insel der rauen, nördlichen See und bedeutet ‚kleiner Wolf.“
„Ja, der Name wäre wahrlich passend“, kommentierte Ivo mit einem verschmitzten Lächeln. Trotz dieser Bemerkung schien das Kind den Cellerar noch immer nicht wahrzunehmen. Nach wie vor blieben Rogars Augen einzig auf den Abt gerichtet. Der versuchte herauszufinden, ob sich der Junge vielleicht an sonst etwas erinnerte.
„Kannst du uns erzählen, was geschehen ist? Kannst du dich erinnern, wie du hergekommen bist, auf wessen Pferd du geritten bist? Wo sind deine Eltern?“
Die Fragen prasselten auf den Knaben nieder. Dabei veränderte sich sein Blick. Noch immer hielt er seine Augen auf den Abt gerichtet, schien den Mönch jedoch nicht mehr wahr zu nehmen. Sie wurden glasig und sahen etwas, was sich an einem fernen Ort abzuspielen schien.
Degenar erkannte schnell, dass der Junge in einer Art Erinnerung gefangen war und er ahnte, dass es keine gute war. Rogars Augen wurden feucht und Tränen begannen bald über die schmutzigen Wangen zu laufen. Um ihn wieder in die Gegenwart zu holen, ergriff Degenar sanft eine Hand des Kindes und sprach beruhigend: „Was dich auch bedrücken mag, du musst es uns nicht sagen, wenn du dazu nicht bereit bist. Keiner wird dich dazu zwingen. Doch willst du es eines Tages jemandem anvertrauen, werden Bruder Ivo und ich stets für dich da sein. Das verspreche ich.“
Ivo nickte eifrig, um dieses Angebot auch von seiner Seite zu bekräftigen und zum ersten Mal löste der Junge seine Augen kurz von Degenar, um den Cellerar anzuschauen. Doch nur für einen kurzen Augenblick. Dann richtete Rogar sein Augenmerk wieder auf Degenar. Es schien, als stünden die beiden in einem stillen Dialog.
Erneut ergriff der Abt das Wort. „Wenn es dir gefällt, so kannst du hier in unserem Kloster bleiben. Du kannst diesen neuen Namen, Faolán, annehmen und ein neues Leben beginnen. Als Novize werden wir dich unser Wissen und Können lehren. Solange du es wünschst, stehst du unter dreifachem Schutz: dem des Herrn, dieser Abtei und von uns beiden. Was sagst du zu diesem Angebot?“
Der Junge schwieg noch immer, doch seine Antwort fiel klar und unmissverständlich aus: Seine bisher kraftlose Hand drückte sanft die des Abtes. Degenar lächelte und nickte. Er hatte verstanden und seine Antwort war ebenso deutlich:
„So sei uns willkommen, Novize Faolán!“
Anno 956 – Drogos Ankunft
Abt Degenar hatte gehofft, die Mitbrüder über den bevorstehenden Besuch noch rechtzeitig informieren zu können, doch es war ihm nicht vergönnt. Er selbst hatte erst heute Morgen davon erfahren, nachdem ihn Prior Walram in den Arkaden des Kreuzganges abgefangen hatte. Degenar hatte instinktiv gewusst, dass dies kein gutes Zeichen war. Nahezu beiläufig teilte ihm der Prior dann mit, dass heute ein neuer Novize in der Abtei aufgenommen werde. Alle Abmachungen mit der Herrschaft seien bereits getroffen und die Urkunde besiegelt worden. Einzig der Vollzug stand noch aus.
Degenar hatte damit keine Möglichkeit gehabt, etwas gegen dieses Arrangement zu unternehmen. Die Beigaben zur Aufnahme des neuen Novizen waren derart großzügig, dass man sie nicht ablehnen konnte. Ertragreiche Ländereien und die Nutzungsrechte des Waldes wurden der Abtei zugesprochen. Ressourcen von großem Wert, die nur ein Narr zurückgewiesen hätte.
Der Prior hatte alles so geschickt eingefädelt, dass Degenar noch nicht einmal die Möglichkeit sah, ihn ob seines eigenmächtigen Handelns zu tadeln. Walram wusste sehr wohl um die Überschreitung seiner Zuständigkeit und bat daher übertrieben, ja beinahe spöttisch unterwürfig, um Verzeihung. Er beteuerte dabei, jede gerechte Strafe hierfür reuevoll auf sich zu nehmen. Degenar wusste natürlich, dass diese Reue nur geheuchelt war.
Die Bruderschaft war im Presbyterium der Klosterkirche versammelt und in stiller Andacht vertieft. Einzig Walrams Stimme war zu hören, der murmelnd monoton Psalmen aus der Heiligen Schrift rezitierte.
Dann brach ein Getöse los. Zu Beginn waren Reiter zu hören, die in schnellem Galopp in den Klosterhof einritten. Das Wiehern der Tiere und das respektlose Rufen der Männer war selbst durch die dicken Kirchenmauern so lärmend, dass sich der eine oder andere Kopf der Brüder fragend erhob. Nur der strenge Blick des Abtes brachte die Neugierigen dazu, sich wieder ehrfürchtig dem Gebet zu widmen.
Degenar war klar, dass die Andacht durch diese Störung so gut wie beendet war. Nicht einmal er konnte mit gutem Beispiel vorangehen und sich darauf konzentrieren. Natürlich erachteten einige Mönche diesen Besuch als willkommene Abwechslung vom sonst so eintönigen Tagesablauf, Degenar jedoch nicht!
Jegliche Missachtung oder Unterbrechung eines Gottesdienstes war dem Abt zutiefst zuwider. Die Mitbrüder kannten diese Ansicht ihres Abtes und wussten auch, meist aus eigener Erfahrung, dass Störungen stets bestraft wurden. Daher sprach in der Kirche auch niemand außer dem Prior, der, scheinbar völlig unbeeindruckt, weiterhin die anstehenden Psalmen dahin murmelte. Für einen Augenblick beobachtete der Abt den Prior, der seinen Blick starr auf das Buch gerichtet hielt: Nichts an Walram verriet auch nur die kleinste Erregung oder Anspannung.
Außerhalb der Kirche herrschte Unruhe. Einige Karren und Wagen kamen hinzu und das Knirschen der Räder auf dem steinigen Klosterhof drang gedämpft bis in das Chorgestühl und verhallte dort. Noch immer zeigte Walrams Antlitz keine Regung. Selbst als plötzlich die schweren Flügel des Kirchenportals aufgestoßen wurden und krachend an der Wand anschlugen, blieb der Klang seiner Stimme gleichmäßig und nahezu einschläfernd.
Mehrere Männer mit festen, ledernen Stiefeln marschierten langen Schrittes durch das Hauptschiff bis zum Chorgestühl. Degenar hatte sein Haupt längst wieder gesenkt und da die Mitbrüder seinem Beispiel folgten, gab es für die Störenfriede niemanden, dessen Blick sie auf sich ziehen konnten.
Nachdem Prior Walram den letzten Psalm gelesen und zum Abschluss das schwere Buch überflüssig laut geschlossen hatte, musste Degenar die Andacht beenden. So lange er es vermochte, verharrte er dennoch weiter in demütiger Haltung. Er wollte den Eindringlingen zeigen, dass sie nicht so ohne weiteres den Gottesdienst stören durften.
Als ihn die Neugier allerdings zu quälen begann und jeder weitere Augenblick zu einer kleinen Ewigkeit wurde, hob Degenar schließlich sein Haupt und richtete sein Augenmerk auf die Männer.
Sie waren rau und zum Teil in recht unordentliche und schmutzige Gewandung gekleidet. Die Mehrzahl von ihnen wirkte unsicher. Offensichtlich wussten sie nicht, wie sie sich in dieser ungewohnt großen Kirche verhalten sollten. Sie schauten immer wieder auf einen Mann, der das Sagen unter ihnen zu haben schien und der zwei Schritte näher am Chorgestühl stand als die anderen.
Degenar kannte diesen Mann zwar nicht, doch es gab keinen Zweifel, um wen es sich dabei handelte. Groß und breit gebaut, mit kantigem Gesicht, strengen Augen und einer Selbstsicherheit, die ihresgleichen suchte, konnte dies nur Rurik sein, der neue Sachwalter der Grafschaft.
Fordernd stand der mächtige Krieger vor der andächtigen Bruderschaft. Mit versteinerter Miene und eisernem Blick wartete er darauf, angesprochen zu werden. Degenar erwiderte diesen Blick. Beide Männer beobachteten sich lange und ruhig, ohne auch nur