Schließlich rief er bei ihr an.
„Hallo, Opa!“, kam Saschas Stimme erfreut durch die Leitung. „Ich krieg ein gutes Zeugnis! Herr Pfaff hat’s mir heute gesagt!“
„Ist ja toll. Ich bin stolz auf dich.“
„Mami auch!“
„Du, Ben lässt dich herzlich grüßen. Er kann selbst nicht sprechen, weil er gerade einen dicken Knochen kaut. Ein armdickes Ding. Auf jeden Fall würde er dich gern am nächsten Wochenende sehen. Kannst du am Sonntag kommen?“
„Nächsten Sonntag“, erwiderte der Junge halb eifrig, halb betrübt, „haben wir Schulfest.“
„Das ist aber schade! Die Woche über bin ich in Berlin, da kann ich nicht.“ Andreas merkte es selbst nicht, aber seine Stimme klang mindestens so enttäuscht wie die von Sascha.
„Wie wär’s denn dann mit Samstag?“
„Warte mal, ich muss Mami fragen.“ Eine Weile blieb es still in der Leitung. Dann kam Sascha wieder, hörbar atemlos. „Mami ist gerade draußen am Mülleimer. Samstag geht aber auch nicht, da sind Bundesjugendspiele.“
„Na so was“, seufzte Andreas. “Ich denke, es wird schwer sein, Ben das beizubringen. Halten wir einmal das übernächste Wochenende fest, ja?“
„Gut, Opa. Tschüss!“
Am übernächsten Wochenende hatte Kornelia ein Buchhändlertreffen, weshalb Sascha den ganzen Samstag bei Andreas, Kurt und Ben verbringen durfte - allein, versteht sich.
Danach verabschiedete er sich in die Ferien.
„Was denn? Schon?“, wunderte sich Andreas.
„Klar. Wir fahren gleich am Anfang der Ferien weg, weil Mami später nicht mehr weg kann aus der Buchhandlung. Dann ist nämlich Schulbuchgeschäft“, erklärte der Knirps mit wichtiger Miene.
„Ach so! Und wohin geht die Reise?“ Andreas wartete gespannt auf die Antwort. Er gestand es sich nicht ein, aber er sehnte sich danach, Kornelia wieder zu sehen. Sie war so ganz anders als die Frauen, mit denen er normalerweise in Kontakt kam. Da waren Filmsternchen und solche, die es werden wollten. Da gab es gestandene Schauspielerinnen mit mehr oder weniger starken Allüren. Da waren Geschäftspartnerinnen, Bankerinnen, Freundinnen... von Letzteren gab es etliche, doch nicht eine hatte ihn je so fasziniert wie Kornelia mit ihrem ungekünstelten Wesen und ihrem natürlichen Charme.
Sascha dachte eine Weile nach, dann strahlte das kleine Gesichtchen auf. „Ich weiß es wieder: nach Friesland auf einen Bauernhof. Da hab ich was zu tun, sagt Mami.“
„Die Adresse weißt du nicht?“
„Doch. Jetzt wieder. Sie ist ganz komisch...“ Er kicherte.
„Komisch? Wieso?“
Sascha lachte. „Samtgemeinde Leer. Alter Herrenhof.“
„Sieh mal an! Ganz in der Nähe habe ich ein Ferienhaus. Vielleicht melde ich mich mal bei euch.“
„Super, Opa! Ich freu mich!“
*
UNGEWOHNT WAR VIELES auf dem Alten Herrenhof in der Samtgemeinde Leer, zum Beispiel der weite Blick über das flache Land, der nirgendwo einen Halt zu finden schien, wie auch die Geräuschkulisse beim Aufwachen morgens, die von Traktorengebrumm übers Muhen der Kühe bis zum Hahnenschrei reichte.
„Ich find’s super“, meinte Sascha zufrieden, der ein Frühaufsteher war und nichts so sehr verabscheute wie eine totenstille Morgenstunde.
„Mir macht es inzwischen auch nichts mehr aus“, musste Kornelia eingestehen. „Schließlich sind wir ja weggefahren, um mal was anderes zu sehen und zu hören als die Dinge zu Hause.“
Nach zwei Wochen dann gab es die ganz große Veränderung:
Der Anblick des schweren Wagens mit der bekannten Nummer in der Einfahrt des Alten Herrenhofs war für Kornelia ein Schock. Sie erstarrte förmlich und spürte, dass ihr Herz einen total verrückten Trommelwirbel schlug. Sie saß unter einem sturmgebeugten Apfelbaum und hatte so weiche Knie, dass sie sich nicht gleich erheben konnte.
„Das darf ja nicht wahr sein!“, sagte sie laut in die heiße Mittagsstille hinein und richtete sich nur starr auf.
Doch noch bevor sie Andreas Vorbeck aussteigen sah, hört sie bereits Sascha ganz begeistert rufen: „Opa! Opa!“ Die Kinderstimme überschlug sich vor Begeisterung. „Du hast uns wirklich hier gefunden! Supergeil!“
Dann sah sie, wie Andreas den Jungen hochhob und durch die Luft schwenkte. Es war eine Begrüßung, die so vertraut, so normal wirkte, dass es ihr einen Stich ins Herz gab.
Nur mit Mühe stand sie auf und ging langsam auf die beiden zu, die neben dem Wagen standen und lebhaft miteinander redeten.
„Was hat Sie denn in diese Abgeschiedenheit geführt?“, erkundigte sie sich, noch bevor sie Andreas die Hand zur Begrüßung gereicht hatte.
„Ach, nichts Besonderes eigentlich. Ich logiere im Sommer gelegentlich hier in der Nähe. Da dachte ich... also, da hab ich mir vorgestellt, ich könnte... wir könnten uns mal sehen und...“
Kornelia verschränkte die Arme, die inzwischen einen wundervollen Bronzeton angenommen hatten, vor der Brust und blinzelte Andreas abwartend an. Es tat ihr gut, diesen weitgereisten, wortgewandten Mann, der im Geschäftsleben sicher vollkommen souverän wirkte, zum Abwechslung mal verlegen stammeln zu hören.
„Wo ist eigentlich Ben?“, fragte Sascha in diesem Moment.
Andreas legte ihm den Arm um die Schultern. „Den hab ich vorsichtshalber zu Hause gelassen. Kurt geht bestimmt in diesem Moment mit ihm an dem kleinen Fluss spazieren, der durch unser Dorf führt und der auch direkt an meinem Grundstück entlang fließt. Weißt du, ich hatte Angst, dass Ben sich eventuell mit den Hofhunden hier nicht versteht. Und am Wasser hat er Spaß.“
„Hätte ich auch“, meinte Sascha sehnsüchtig.
„Das trifft sich gut. Ich wollte dich und deine Mutter nämlich einladen, mich mal zu besuchen. Der Dorfbäcker macht ganz hervorragenden Kuchen.“
Sascha, nur mit Shorts bekleidet, führte einen wilden Freudentanz auf. Kornelia fing ihren Sohn schließlich auf und fuhr ihm mit der Hand durchs strubbelige blonde Haar.
„Ist es weit?“, erkundigte sie sich bei Andreas.
„Nein, nicht sehr. Nur bis zur Küste. Der kleine Dorfbach mündet kurz hinter dem Dorfende ins Meer.“
„Sollen wir uns stadtfein machen? Bekommen Sie da auch wieder Gäste aus der Großstadt?“
„Bloß nicht! Die kennen den Ort nicht mal. Es reicht, wenn sie mich daheim immer wieder überfallen.“ Er lächelte Kornelia an. „Sie sehen toll aus, bleiben Sie ruhig, wie Sie sind.“
„Sicher ist sicher“, murmelte Kornelia, als sie ihren Sohn ungeachtet seines lebhaften Protestes mit ins Haus nahm und ihn in ein frisches T-Shirt steckte. Anschließend vertauschte sie ihr zerknittertes schlichtes Trägerkleid mit einer hellen Hose und einer mintfarbenen Seidenbluse. Wer weiß, ob sich nicht doch ein paar von seinen Jetset-Freunden hier herauf in den Norden bequemen, dachte sie. Er hält es wahrscheinlich ohne diesen Trubel keine Woche aus - und diese Horde von reichen Nichtstuern auch nicht.
Aber sie sah sich bald darauf getäuscht.
Das Friesenhaus aus roten Ziegeln, reetgedeckt, träumt in der Mittagssonne still vor sich hin.
Die Rosen am