„Genau! Die waren ja alle dabei. Hast sie sicher gehört. Jetzt glauben sie mir wenigstens, dass ich einen Opa hab.“ Ein erleichterter Seufzer folgte. „Danke, Leih-Opa.“
Andreas lachte. „Dann bin ich froh, dass ich richtig geschaltet hab und dass du gerade meine Nummer gewählt hast. Wieso eigentlich? Woher hast du die überhaupt?“
„Das ist die Leichteste, die es gibt“, erklärte der kleine Sascha selbstbewusst.
„Findest du? Zwölf vierunddreißig sechsundfünfzig?“, wunderte sich Andreas und runzelte leicht die Stirn dabei.
„Was?“
„Das ist doch meine Telefonnummer.“
„Ja?“ Jetzt klang Sascha unsicher.
„Natürlich. Du hast sie doch schon zwei Mal gewählt.“
„Aber ich wähle immer nur eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs - fertig.“
Andreas dachte nach. „Richtig, das kommt aufs Gleiche raus“, gestand er schließlich verblüfft ein. „Wo wohnst du denn?“
„In Kalkennau. Ist das weit von dir?“
„Wie man’s nimmt“, erwiderte Andreas zögernd. „Es ist das Dorf am Ende der Schnellstraße.“ Er zögerte, wusste nicht genau, was er sonst noch sagen sollte. Schließlich fragte er: „Wie alt bist du eigentlich, Sascha?“
„Sechs Jahre. Ich gehe zu Herrn Pfaff in die Klasse. Kennst du den?“
„Nein, Junge, leider nicht. Wie ist er denn?“
„Ooch... eigentlich ganz in Ordnung. Du, ich muss jetzt Schluss machen.“ Die Kinderstimme klang plötzlich gehetzt. „Mami schließt gerade die Haustür auf. „Tschüss, Opa, und vielen Dank.“
Knack... die Verbindung war unterbrochen.
*
IN DER PARTERREWOHNUNG der Goethestraße Nr. 2 in Kalkenau saß Kornelia Hansen an ihrem Schreibtisch und versuchte, sich in eines der Leseexemplare zu vertiefen, die sie immer aus der Buchhandlung mit nach Hause zu bringen pflegte. Links von ihr, genau vor dem Fenster, saß ihr Sascha an einem etwas niedrigeren Schreibtisch und scharrte mit den Füßen.
„Ich hab heute den Hund wieder gesehen, Mami.“
„Meinst du den, der den Mülleimer geplündert hat?“
„Ja, genau den. Er läuft immer noch hier rum. Ich... ich denke, der gehört niemandem.“
Kornelia umfing ihren Sohn mit einem langen Blick aus graugrünen Augen. „Du weißt, dass wir keinen Hund in dieser Wohnung halten dürfen, Sascha.“ Es klang ruhig, bedauernd und abschließend.
„Aber du wolltest doch Herrn Grahnau fragen, ob er keinen Hund gebrauchen kann. Einen schönen, großen, ganz schwarzen Hund.“
Herr Grahnau war der Inhaber der Buchhandlung am Goetheplatz, ein versponnener alter Herr, der sich außer für schöngeistige Literatur nur fürs Schachspielen interessiert. Er war Kornelias Arbeitgeber.
„Herr Grahnau hat Angst vor Hunden, Sascha. Und seine Wohnung ist noch viel kleiner als unsere.“
„Aber der Hund könnte doch nachts im Geschäft bleiben und es bewachen“, gab Sascha hartnäckig zu bedenken. „Und tagsüber kümmere ich mich um ihn. Ich geh auch ganz viel mit ihm spazieren, Mami.“
„Tagsüber, mein Schatz, gehst du in die Schule. Dann in den Hort. Da machst du einen Teil deiner Aufgaben, den Rest machen wir dann hier zusammen. Wie zum Beispiel jetzt. Hast du die neuen Buchstaben schon geschrieben?“
„Nein. Ich muss dauernd an den Hund denken, Mami. Der hat sicher Hunger. Er tut mir sooo leid!“
„Und deine Zahlen?“
„Die hab ich.“
„Was für Buchstaben und Wörter sollt ihr denn schreiben?“
„Nur runde. Ein O. Und ein Q.“
„Ja, dann schreib mal. Für jeden Buchstaben eine Zeile, das müsste reichen.“
„Das ist so schwer“, jammerte Sascha, der sich absolut nicht konzentrieren konnte, da er immer das Bild des schwarzen Hundes vor Augen hatte.
„Stell dir einfach vor, du würdest Ostereier malen“, schlug seine Mami vor.
„Jetzt?“, fragte Sascha gedehnt. „Um die Zeit gibt’s doch keine Ostereier. Warum sollte ich die da malen?“
Kornelia klappte das Buch zu und stand auf. „Ich koche uns jetzt erst mal einen Kakao, und du schreibst deine Buchstaben auf. Einverstanden?“
Sascha nickte widerwillig.
„Gut. Nachher seh ich mir an, was du gemacht hast. Dann gehe ich kurz rüber und helfe Herrn Grahnau bei der Kassenabrechnung. Wenn du willst, kannst du mitkommen.“
„Nö.“ Sascha winkte rasch ab.
Er musste noch zehn Minuten warten - und dabei zwei Zeilen Os schreiben, dann zog sich seine Mutter endlich an und verließ die Wohnung.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich zugezogen, griff Sascha zum Telefonhörer und wählte die inzwischen schon vertraute Nummer.
Die ersehnte Stimme meldete sich - endlich!
„Hallo, Opa“, sagte er und schnappte nach Luft vor Erleichterung.
„Hallo Sascha!“ Die Männerstimme krächzte ein bisschen, aber sie klang erfreut.
„Hast du gleich gewusst, dass ich es bin?“, wollte Sascha wissen.
„Klar! Außer dir nennt mich niemand Opa. Warum hast du dich denn so lange nicht gemeldet?“
„Ich hab’s ja immer wieder probiert, aber du bist ja nicht dran gegangen“, meinte Sasche mit milder Entrüstung. „Wo warst du denn, Opa?“
„Um diese Zeit muss ich meistens arbeiten. Und das tu ich auch oft woanders. Ich muss hin und wieder verreisen, weißt du.“
„Aha. Und wohin?“
„In verschiedene Städte. Mal nach Berlin, dann nach München, oder auch ins Ausland. Das gehört zu meinem Job. Aber du kannst mir ja eine Nachricht hinterlassen. Musst nur aufs Band sprechen.“
„Das ist das nach dem Piep, oder?“
„Richtig.“
„O.k., dann mach ich das mal“, erklärte Sascha großzügig. „Aber es ist doof, wenn du nicht da bist.“
Andreas lächelte. „Stimmt. Wenn wir miteinander reden können, ist es besser.“ Er zögerte, dann meinte er: „Ich könnte dich ja auch mal anrufen. Sag mir doch, wo du wohnst, wie du mit Nachnamen heißt - und gib mir eure Telefonnummer durch.“
„Warum?“, fragte Sascha gedehnt.
„Es wäre nur fair, meinst du nicht?“
Für einen Moment blieb es still in der Leitung. „Aber wenn du anrufst und meine Mami ist am Telefon...“
„Was soll dann sein? Ich versuche es eben später noch mal.“
Der kleine Junge zögerte immer noch. Einen Opa, der keiner war, seinen Schulfreunden zu präsentieren, war eine Sache. Ihn seiner Mutter einreden zu müssen war etwas ganz andres. Aber so, wie die Dinge nun einmal lagen, blieb ihm nichts anderes übrig, als die gewünschten Informationen zu geben.
„Du hast doch was auf dem Herzen“, bemerkte Andreas, der sich alles sorgfältig notiert hatte. „Schieß los!“
„Merkt