Abgesprungen. Thomas Schaefer Clemens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Schaefer Clemens
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347077164
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sportlich gehalten, fragt aber nicht weiter nach. „Und in Englisch?“ „Sehr gut.“ „Das hört sich doch ganz gut an, in Rechnen, das wird schon.“ Johannes sagt nichts. „Junge, nu’ mal Butter bei die Fische, was ist los? Warum bist du so trübsinnig?“ „Ach nichts.“ An diesem Nachmittag gelingt es Wilhelm Maltus nicht, mehr aus seinem Enkel herauszubekommen, obwohl er deutlich spürt, dass etwas vorgefallen sein muss. Später hatten sie eine Runde Schach gespielt, wie sie es manchmal taten, aber wenig geredet. Danach hatte er Kartoffelpuffer für den Jungen gemacht, die er wortkarg am Küchentisch vertilgt hatte.

      Der Grund für Johannes’ Trübsinn rührt von folgender Begebenheit, die sich am Morgen abgespielt hatte. Auf dem Schulweg hatte er Rebecca gesehen. Sie ging etwa 50 Schritte vor ihm. Er war gelaufen, um sie einzuholen, hatte auch gerufen. Sie hatte sich kurz umgedreht und als sie ihn erblickte, war sie selbst losgelaufen und dann in eine Seitenstraße abgebogen, wo sie zwei Klassenkameradinnen traf. Sie hatte ihn keines Blickes gewürdigt. Was hatte er falsch gemacht? Ein paar Tage zuvor hatte er noch mit ihr in der Küche ihrer Eltern bei heißer Schokolade gesessen und dieses leckere Gebäck gegessen. In der Schule lief auch nicht alles so glatt, wie er bei seinem Besuch bei Opa vorgegeben hatte. Zwar war er, von Mathematik einmal abgesehen, wirklich ein guter Schüler, aber sein vormals bester Freund Kurt Krahn hatte überall herumerzählt, dass er sich mit Rebecca treffe, der Tochter vom Uhrmacherjuden und sich in Klein Jerusalem herumtreibe. Sich überhaupt mit Mädchen abzugeben, war für die Sextaner schon ein Fauxpas, dass Rebecca Jüdin ist, für manche offenbar eine Art Verbrechen. Er wurde mehr und mehr zum Außenseiter in seiner Klasse, obwohl sich einige Jungen neutral verhalten und sich nicht an der Häme beteiligten. Aber das waren ebenfalls Klassenkameraden, die auf dem besten Weg zum Außenseiter waren, und von Rüpeln, wie Willi Hamester traktiert wurden. Hamester, auch Hammer genannt, war der größte und stärkste Junge in der Klasse, der gerade wie es ihm beliebte, Boxhiebe und Kopfnüsse an alle verteilte, die er für unwürdig hielt, sich in seiner Nähe aufzuhalten. Johannes gehört leider dazu. Natürlich waren Typen, wie Hamester genau nach Turnlehrer Hackbarts Geschmack. Der hatte zu allem Überfluss davon erfahren, dass Johannes Kontakte zu einer jüdischen Familie hatte. Seitdem benachteiligte Hackbarth ihn in seinem Unterricht. Judenfreund und Schwächling hatte er ihn genannt und dafür gesorgt, dass er nicht mehr in die Fußballmannschaft der Klasse gewählt wurde.

      Das Weihnachtsfest bei den Seibels verläuft zunächst harmonisch. Opa ist natürlich zu Besuch, aber die Zeiten als er für die Kinder als Weihnachtsmann verkleidet auftrat, sind längst vorbei. Nach dem Karpfen müssen Johannes und seine beiden Schwestern die gute Stube verlassen, bis die Erwachsenen die Kerzen am Tannenbaum angezündet und die Geschenke unter dem Baum aufgebaut haben. Dann wird traditionell das Glöckchen geläutet und die Kinder dürfen wieder herein. Sie singen, wie in jedem Jahr, einige Weihnachtslieder, wobei Johannes schon mal die verpackten Geschenke taxiert. Endlich ist Bescherung. Johannes bekommt von seinen Eltern und von Opa einiges Zubehör für seine Märklin Bahn und von Wilhelmine das Buch The adventures of Huckleberry Finn in englischer Sprache. Auguste hatte ein schönes Kleid und Wilhelmine einen neuen Mantel bekommen. Für Spielsachen sind die Mädchen schon zu groß, finden ihre Eltern. Johannes Mutter bekommt einen dieser neuen Staubsauger von ihrem Ehegatten. Die Geschenke seiner Frau enthalten zwei Schellackplatten, den neuesten Schlager und Operettenmusik, sowie ein neues Benzinfeuerzeug. Johannes überreicht Mutter einen kleinen Bilderrahmen mit einem selbst gemalten Bild einer Winterlandschaft, wofür sie sich herzlich bedankt. Seinem Vater übereicht er ein Zigarettenetui aus glänzendem Metall, welches er von seinem Taschengeld gekauft hatte. Vater nickt kurz und legt es achtlos auf die Anrichte. Der Höhepunkt des Abends naht: Ein elektrisches Grammophon, welches Paul Seibel sich selbst schenkt, das aber im Hotel seinen Platz finden soll. Dafür wird das alte Gerät zum Aufziehen zuhause aufgestellt. Johannes ist trotz der wertvollen Gaben enttäuscht. Vater hatte ihm nicht mal ein frohes Weihnachtsfest gewünscht. Nun ist er damit beschäftigt, das neue Grammophon anzuschließen. Schließlich legt er die Platte von den Comedian Harmonists auf. Der neue Schlager Ich hab ein Zimmer, gnädige Frau ertönt. Mama protestiert. Das passe nun wirklich nicht zu Weihnachten. Später am Abend lesen Mama und Wilhelmine abwechselnd weihnachtliche Kurzgeschichten vor. Aus dem neuen Grammophon tönt jetzt leise Operettenmusik. Die Erwachsenen trinken Wein, Wilhelmine bekommt auch ein Glas, während Johannes und Auguste an diesem Abend ausnahmsweise so viel grüne, rote und gelbe Brause trinken und Weihnachtsgebäck essen dürfen, wie sie mögen. Am Ende zünden Papa und Opa sich Zigarren an und Mama schimpft weil sie von dem Qualm husten muss und nicht mehr vorlesen kann.

      Später als Johannes im Bett liegt und ihm ein wenig übel von der vielen Brause und den Süßigkeiten ist, muss er immer wieder daran denken, wie Vater sein Geschenk so achtlos beiseitegelegt hatte. Weshalb ist er so? Kein Lob, kein freundliches Wort. Dann denkt er an die Weintraubs, die ja nicht richtig Weihnachten feiern, aber trotzdem ging es dort geselliger und fröhlicher zu als hier zuhause. Das Chanukkafest, so wie Rebecca es beschrieben hatte, ist sicher auch schön. Ob sie wieder so viele Süßigkeiten gewonnen hatte beim Dreidelspiel? Schade, dass er nicht dabei sein konnte. Die Juden haben geheimnisvolle Rituale. Gern würde er mehr darüber erfahren. Seit jenem Tag als Rebecca auf dem Schulweg vor ihm davongelaufen war, hatte er sie nicht mehr gesehen. Am ersten Donnerstag im neuen Jahr, würde er wie gewohnt zur Klavierstunde erscheinen, dann wird er schon herausbekommen, weshalb sie sich so abweisend verhielt.

      Johannes klopft sich den Schnee von den Stiefeln, bevor er zwei Wochen später das Uhrengeschäft betritt. Niemand ist im Laden. „Guten Tag“, sagt er laut. Keiner antwortet. Vorsichtig blickt er in die Werkstatt. Rebeccas Vater sitzt dort über seine Werkbank gebeugt, ein Lupenglas vor dem Auge. Er blickt auf, sieht ihn mitleidig an. „Ach Johannes, Rebecca ist nicht zuhause.“ „Ich wollte zur Klavierstunde. Heute ist doch Donnerstag.“ Weintraub zögert einen Augenblick, dann weist er ihm mit einem Kopfrucken den Weg nach oben. Auch Frau Weintraub ist heute irgendwie verlegen, fragt nur, ob er hoffentlich nicht so viel verlernt hat. Der Klavierunterricht zieht sich schleppend dahin ohne Rebecca. Schließlich fragt er, wo sie denn sei. „Bei ihren Freundinnen“, ist die knappe Antwort. Als er das Haus der Weintraubs verlassen will, fragt Rebeccas Vater, wie es denn seinem Großvater gehe. „Etwas besser“, antwortet er. „Sag’ ihm doch, dass er mal wieder vorbeikommen möchte, wenn es ihm gut genug geht.“

      Als Opa Maltus und Johannes wieder einmal Schach spielen, seufzt Opa tief und setzt zu einer gequälten Rede an. „Ich war gestern bei Uhrmacher Weintraub. Er … also, es ist schwer zu erklären. Er sagte, dass mit dem Klavierunterricht erstmal Schluss ist.“ „Warum? Ich habe mich bestimmt immer ordentlich benommen.“ „Ich weiß, das ist es nicht, mein Junge.“ „Was denn dann?“ Opa ringt mit sich. „Sie sind Juden, einige Menschen reden schlecht über sie, weil … weil, ach das ist schwer zu verstehen.“ „So wie Turnlehrer Hackbart“, schimpft Johannes. „Die Weintraubs sind feine Leute“, setzt Opa erneut an, „aber sie haben gewisse Sorgen.“ Johannes sieht ihn fragend an. Opa schüttelt langsam den Kopf, als verstünde er es selbst nicht. „Und Rebecca?“ Opa knetet sich das Kinn und überlegt. „Rebecca kommt jetzt in ein Alter, wo die Mädchen …, ach das verstehst du nicht.“ „Opa! Ich habe zwei große Schwestern!“, erinnert er ihn. „Hess ok wedder recht“, seufzt Opa erneut. „Hab’ einfach ein wenig Geduld. Die Zeit heilt alle Wunden.“ Ehe Johannes etwas entgegnen kann, wechselt Wilhelm Maltus das Thema. „Was ist denn nun mit deinem Turnlehrer? Was erzählt der da für einen Unsinn in der Schule?“ Naja, er redet eben schlecht über die Juden, und wen er nicht mag, den triezt er ordentlich, nennt ihn Schwächling und gibt ihm Kopfnüsse. Redet so ähnlich, wie die Männer, die abends im Hotel am Stammtisch sitzen.“ Opa verzieht das Gesicht. „Und dieser Hackbart? Dich triezt er auch?“ „Manchmal“, gibt Johannes kleinlaut zu. „Lat di von den Mors nich unnerkreegen!“, fällt Opa ins Plattdeutsche und lacht kurz auf, wird aber gleich wieder nachdenklich.

      Drei Monate später hat sich Johannes’ Klasse endgültig in zwei Lager gespalten. Diejenigen, die Herrn Hackbart, der zu allem Überfluss auch noch den Deutschunterricht übernommen hat, nach dem Mund reden und stramme Haltung annehmen, wenn der Turnlehrer seine Kommentare abgibt und jene die sich zurückhalten und so gut es geht mit stummem Protest seine Schikanen über sich ergehen lassen und schlechtere Noten kassieren, ihren Lehrer aber hinter seinem Rücken