Wilhelm Maltus sollte Recht behalten, sein Einschätzungsvermögen was wirtschaftliche Dinge betraf, hatte er durch seine langjährige kaufmännische Berufspraxis erworben. In solch schlechten Zeiten musste man rechtzeitig in Dinge investieren, die ihren Wert behalten, möglichst mit geliehenem Geld auf dessen Entwertung man spekulierte und dann seine einst hohen Schulden mühelos mit wertlosem Geld zurückzahlen konnte. Genauso hatten es nun die Seibels gemacht. Zwei Wochen später führt die Deutsche Reichsbank die Rentenmark ein. Eine Rentenmark entspricht einer Billion alter Reichsmark. Die Ersparnisse und die Kriegsanleihen der Deutschen waren von einem Tag auf den anderen wertlos. Der Staat vor allem, aber jene, die auf Pump Häuser gekauft hatten, waren ihre Schulden los. Johannes‘ Eltern sind auf einen Schlag schuldenfrei und besitzen nun ein, wenn auch renovierungsbedürftiges, Hotel in guter Lage.
New York, Pier 86, 30. August 1939, 01:53 Uhr, nachts
Johannes Seibel taucht prustend auf und schnappt nach Luft, schmeckt ölig modriges Hafenwasser. Hinter ihm befindet sich der schwarze Schiffsrumpf der sich hier zur Wasserlinie hin stark verjüngt. Daher kann man ihn vom C-Deck aus nicht sehen. Irgendwo unter ihm befinden sich die gewaltigen Schrauben der Bremen. Er sieht sich nach seinem Segeltuchpäckchen um. Es ist doch nicht etwa untergegangen? Es ist zu dunkel, um auf der Wasseroberfläche etwas zu erkennen. Dann hört er Rufe. Ob jemand Hilfe brauche. „Da ist nix, Hein!“ „Wenn ich‘s dir doch sage, das hat ordentlich geplatscht, als ob was Großes ins Wasser gefallen ist.“ „Vielleicht ‘n dicker Fisch?“ „Tüünkram, hab’s doch genau gehört.“ Der Lichtkegel einer starken Handlampe streicht über das Wasser. „Kiek mol, wat schwimmt denn da?“ Der Lichtschein hat das Segeltuchpäckchen erfasst, welches fast unter Wasser dahindümpelt. „Dat ist nix, jedenfalls kein Mensch.“ „Wenn du meinst?“ Der Schein der Lampe streicht noch ein paarmal über die ruhige Wasserfläche, bevor er erlischt. Johannes Seibel wartet noch zwei Minuten. Als alles ruhig bleibt, schwimmt er aus der Deckung des Achterstevens hervor. Er findet sein Segeltuchpäckchen, das beinahe untergegangen ist und schwimmt auf die Pier zu. Es ist unglaublich anstrengend in der vollgesogenen Kleidung zu schwimmen. Auch das Päckchen welches er vor sich herschiebt hat keinen Auftrieb mehr. Das heißt, dass er keine trockene Ersatzkleidung hat. Kurz darauf erreicht er die stählerne Leiter, steigt erschöpft an Land und versteckt sich hinter einem Stapel Holzkisten. Er öffnet sein Päckchen, natürlich ist nichts trocken geblieben. Der Plan wäre gewesen, sich trockene Kleidung anzuziehen und unbemerkt aus dem Hafengebiet zu verschwinden, über die breite Westside Street in den Straßenschluchten abtauchen. Drüben auf der Lower-East Side, wo viele deutsche Auswanderer leben, Arbeit suchen. Irgendetwas und sei es noch so niedere Arbeit würde er schon finden. Bis dahin durfte er sich nicht von der Zollbehörde oder der Polizei erwischen lassen. Wenn die Bremen erst abgelegt hat, kann man ihn nicht mehr so einfach ausweisen und nach Deutschland zurückschicken, glaubt er und will sich auf den Weg machen.
„Stop!“, ruft jemand. Grelles Licht blendet ihm direkt ins Gesicht. Jemand packt ihn und biegt ihm unsanft den Arm auf den Rücken. Er wird gegen die Mauer gedrückt und durchsucht. Was, zur Hölle, er hier zu schaffen habe, fragt jemand in militärisch barschem Ton und starkem New Yorker Akzent. Johannes erklärt auf Englisch, wobei er versucht seiner Aussprache eine amerikanische Sprachfärbung zu verleihen, dass er ein paar Gläser über den Durst getrunken, sich verlaufen habe und in den verdammten Hudson gefallen sei, und ob sie wüssten, wo er seine Sachen trocknen kann. „In der Zelle vom Polizeirevier in der 11th Avenue!“, klärt der Wachmann ihn auf. Er fragt noch, ob er von dem deutschen Dampfer sei. Nein, er sei Amerikaner, habe aber keine Wohnung in New York. „Soso, keine Wohnung!“, kommentiert der Mann und führt ihn ab.
Auf dem Polizeirevier nimmt man ihm das Päckchen mit seiner Ersatzkleidung und das Bündel, welches er unter seiner Jacke verborgen hat, ab. Darin befinden sich 30 Reichsmark überwiegend in Münzen und 40 Dollar überwiegend in Eindollarnoten, Trinkgeld, das er von amerikanischen Passagieren auf der Bremen erhalten hatte, sowie sein deutscher Reisepass, zwei Fotographien und seine kostbare Uhr, ein Geschenk von Uhrmacher Weintraub. Jedoch gibt es nichts, was ihn als Besatzungsmitglied des Schnelldampfers Bremen ausweist.
„Die Tagschicht wird sich um dich kümmern“, teilt der Polizist ihm mit, bevor die vergitterte Tür ins Schloss fällt. Eine leichte Panik befällt ihn, wieder eingesperrt zu sein. Er ist heilfroh, dass Licht brennt und er nicht allein in der Zelle ist. Zwei weitere Gefangene sind dort. Einer liegt auf der einzigen Pritsche und schnarcht, der andere sitzt auf dem Boden und lehnt mit dem Rücken an die dreckige Mauer. Es riecht nach Alkohol und Urin. „Eh, Mann, warum bist ‘n so nass?“ „Bin in ‘n verschissenen Hudson gefallen, paar Whiskey zu viel, Mann!“, antwortet er im gleichen Jargon. „Verdammt, warum machst ‘n das?“ „Ist halt passiert, dann haben mich die Wachmänner gegriffen.“ „Das ist echt Pech, Mann, aber morgen biste bestimmt wieder draußen!“ Johannes zieht seine Kleidung bis auf die Unterhose aus und wringt die nassen Kleidungsstücke über dem Toiletteneimer aus. Dann breitet er sie auf dem Boden aus. Der Anzug dürfte komplett ruiniert sein, aber was hatte er erwartet. Resigniert setzt er sich auf den Betonboden, lehnt sich ebenfalls an die Zellenwand und hüllt sich in eine muffige Decke, welche man ihm gegeben hatte. Ihm ist trotzdem verdammt kalt. „Meine erste Nacht in Amerika, Herzlichen Glückwunsch, Johannes“, murmelt er auf Deutsch. „Was haste gesagt?“ „Nix, bin müde.“
Eingeschlafen ist Johannes Seibel erst in den frühen Morgenstunden. Als er schließlich von einem baumlangen Police-Officer unwirsch geweckt wird, braucht er ein paar Sekunden, um zu realisieren, wo er sich befindet. Er überlegt immer noch, welche Lügengeschichte er der Polizei auftischen soll, damit man ihn, um Gottes Willen, nicht gleich auf die Bremen zurückbringt. Im Laufe des Tages würde sie New York mit Sicherheit verlassen. Er könnte sagen, dass er schon ein paar Wochen illegal in New York sei und nicht nach Deutschland zurück könne. Keine gute Idee, entscheidet er. Was sollte sie dann davon abhalten, ihn sofort auf das Schiff zu bringen. Er könnte sagen, dass er Jude sei und von der Hitler-Diktatur verfolgt werde und um Asyl bitten - nein, sie würden ihn entlarven. Außerdem haben Juden aus Deutschland ein großes J in ihrem Reisepass. Inzwischen hat er sich angezogen und lässt sich von dem Polizisten in die Wachstube bringen, wo man ihn auf einem Stuhl vor einem schäbigen Schreibtisch platziert. Man befiehlt ihm, auf den Vernehmungsbeamten zu warten.
Die Uhr über dem Schreibtisch zeigt bereits 9:35 Uhr. Seit eineinhalb Stunden setzt die Zollbehörde die Durchsuchung der Bremen fort. Sein Verschwinden wurde sicherlich schon bemerkt. Schließlich nimmt ein Beamter in zivil hinter dem Schreibtisch Platz und blättert in seinem feuchten Reisepass. „So, Mister Johannes Seibel aus Hamburg, Deutsches Reich, jetzt erklären Sie mir, was Sie mitten in der Nacht an der Pier 86 zu suchen hatten?“ „Ich bin von einem deutschen Schiff ins Wasser gesprungen und ans Ufer geschwommen.“