Als er mit seinem zerrissenem Anzug und der Schürfwunde durch den Personaleingang des Restaurants kommt, läuft er Linda in die Arme. „Mein Gott, Joe, was ist passiert?“ „Ach, nichts.“ „Willst du mich auf den Arm nehmen? Du siehst aus, als ob du überfallen wurdest. Du blutest am Kopf! Die Wunde muss desinfiziert werden, ach Gott und der schöne Anzug und wo ist dein Hut?“ Rose und Erica, ihre Kolleginnen, kommen heran und halten sich beide erschrocken die Hand vor den Mund.
Nachdem Linda und Rose ihren Kollegen verarztet und die Hoffnung geäußert haben, dass sein Anzug durch eine versierte Schneiderin, wie Lindas Tante, noch zu retten sei, sitzen sie am Tisch hinter der Küche beisammen und Johannes muss erzählen, was passiert ist. „Verdammt, Joe, wie konntest du dich in diese miese Gegend trauen und dann noch mit dem feinen Zwirn. Da mussten die ja denken, dass bei dir was zu holen ist“, entrüstet sich Rose. Joe nickt. „Das war wohl ziemlich naiv von mir.“ „Allerdings“, beteuert der Koch, „kannst froh sein, dass du noch lebst.“ Seine Kollegen fragen ihn weiter aus, was er früher in Deutschland gemacht hat, weshalb er so gut ihre Sprache spricht und ob Hitler wirklich so schlimm ist und ob er glaube, dass der Krieg in Europa bald vorbei sei? Johannes erklärt, dass Hitlers Regime schlimm genug ist, dass er von der Bremen in den Hudson gesprungen sei. Vorher habe er als Steward die Passagiere auf dem Schiff bedient. Seine Kollegen sehen ihn mit einer Mischung aus Staunen und Ungläubigkeit an.
Eine Woche später ist Johannes’ Anzug geflickt und die Schürfwunde verheilt. „Da bin ich euch wohl etwas schuldig, wenn ich wieder ein paar Dollar gespart habe“, teilt er Linda und Rose mit, als sie ihm seinen frisch gebügelten Anzug überreichen. Dazu hatten sie noch auf einem Straßenmarkt in der Eldridge Street einen ganz passablen Hut für ihn erstanden. „Lass nur!“, wiegelt Linda ab. „Am Samstag, dann bekomme ich meinen Wochenlohn von Mister Harvey, davon lade ich euch ins Kino ein“, verspricht er. „Fein, im Astoria am Time-Square läuft Der Zauberer von Oz mit Judy Garland in der Hauptrolle“, erklärt Rose. Er nickt. „Ich rede mal mit Mister Harvey, ob er uns am Samstagabend frei gibt“, erklärt Linda.
Mister Harvey schüttelt entschieden den Kopf. Am kommenden Samstag könne er niemanden seiner Leute entbehren. Eine große Gesellschaft habe sich am Abend angemeldet, eher benötige er noch eine weitere Kellnerin. „Wie wäre es mit einem Kellner, der bereits Erfahrung mit den vornehmen Gästen auf einem Ozeandampfer hat?“, schlägt Linda vor. „Ach, und wer soll das sein?“, gibt er ungnädig zurück. „Joe!“
Als am Samstag kurz vor Mitternacht die letzten Gäste gegangen sind, zahlt Mister Harvey den zusätzlichen Lohn und die Trinkgelder an seine Angestellten aus. Mit Johannes’ Leistung ist er sehr zufrieden. Leider könne er ihm aber keine dauerhafte Stellung vorn im Restaurant anbieten, solange er nicht über eine offizielle Arbeitserlaubnis verfüge, zu riskant, wenn die Behörde kontrolliert. Hinten in der Küche könnte er sich ja rechtzeitig verstecken. Aber wenn er noch etwas für ihn tun könne, jederzeit. Mit der Einbürgerung und der Arbeitserlaubnis sei es wohl einfacher, wenn ein angesehener Bürger der Vereinigten Staaten persönlich für ihn bürge, deutet Johannes an. Mister Harvey lehnt dies jedoch ab. Das würde nichts bringen und mit den Behörden wollte er lieber nichts zu tun haben.
Ende November, die ersten unangenehm kalten Tage hatten New York in den Morgenstunden mit Raureif und Nebel überzogen. Dennoch nutzt Johannes den freien Sonntag für eine weitere Exkursion durch die Riesenstadt. Dank des warmen Mantels, ein Geschenk von Mister Harvey zum Thanksgiving, muss er nicht frieren. Harvey hatte den Mantel natürlich nicht gekauft, er war in seiner Wäscherei von einem Kunden nicht abgeholt worden. Möglicherweise plagte Harvey sein Gewissen, weil er die persönliche Bürgschaft für ihn abgelehnt hatte. Mit der Subway fährt Johannes bis zur 141st Street hinauf. Gleichförmige rote Backsteinblöcke mit den obligatorischen verrosteten Feuertreppen an der Außenfassade umgeben ihn und dennoch sind die Straßen recht belebt. Hier wohnen fast nur Neger. Er meidet weniger belebte Straßen und achtet genau darauf, ob ihn jemand belauert oder verfolgt. Alles erscheint unverdächtig, daher biegt er zum Harlem-River ab, an dessen Ufer er spazieren geht. Johannes zieht trotz des Überfalls, die weniger wohlhabenden Stadteile den pompösen Gegenden vor. In die Geschäfts- und Vergnügungsviertel Manhattens hatte er Linda und Rose einmal begleitet. Aber das war eine Welt, in die er, der jeden verdammten Cent zweimal umdrehen muss, nicht hineinpasst. Er hatte Linda und Rose schließlich, wie versprochen, ins Kino eingeladen. Der Zauberer von Oz, ein gut inszeniertes, tiefgründiges Märchen hatte ihn durchaus beeindruckt. Vor allem als die wirklich bezaubernde Judy Garland ihr Stück Over the Rainbow intoniert und die Frauen zu Tränen rührt. Rose, neben ihm hatte seine Hand gedrückt und sich von ihm die Tränen abwischen lassen, was ihr hinterher furchtbar peinlich war. Dennoch war Johannes an jenem Abend berauscht von der Atmosphäre im flirrenden Downtown Manhattan, die unglaubliche Leuchtreklame am nächtlichen Time-Square, die gewaltigen Silhouetten der Wolkenkratzer, die Menschenmassen und der nicht abreißende Autoverkehr in den breiten Straßen und das mitten in der Nacht. Ins Kino hatte sie noch ein weiterer Mann begleitet. Zunächst hatte er eine Spur Eifersucht verspürt, als der die attraktive Linda zur Begrüßung herzlich umarmt hatte. Kurz darauf hatte sie ihn als ihren kleinen Bruder Victor vorgestellt, obwohl Victor fast Eins Neunzig misst. Victor hatte sie alle nach dem Kino in eine Bar auf einen Drink eingeladen. Die hellblonde Linda gefällt ihm, aber da macht er sich nichts vor. Bei ihr hätte er sicher keine Chancen, bei Rose schon eher, wie sie ihn manchmal ansah. Schnell verdrängt er den Gedanken, eine seiner Kolleginnen zu begehren. Es war schon eine Menge wert, sie als wohlgesonnene Arbeitskolleginnen zu haben. Wenn Rebecca nur hier wäre, denkt er mit einer Spur Wehmut.
Plötzlich hört er voraus vom Flussufer schrille Schreie einer Frau und ihrer Kinder. Die Frau, eine Negerin, keift ihren Mann, einen riesigen Kerl, an und schubst ihn zum Ufer hin. Gerade als Johannes im Laufschritt herankommt, springt der Mann recht unbeholfen ins Wasser. Die Frau fällt mit einem weiteren schmerzlichen Schrei auf die Knie und hält zwei Kleinkinder im Arm. Johannes sieht im Wasser eine kleine Hand wild herumzappeln, ein krauser Haarschopf erscheint kurz, verschwindet jedoch unter der Wasseroberfläche. Der Vater versucht vergebens sein Kind zu erreichen. Die Strömung scheint es fortzureißen. Der Mann kann offensichtlich nicht schwimmen. Aber da hat Johannes schon Schuhe und Mantel abgestreift. Ohne zu zögern springt er in den eiskalten Fluss. Mit wenigen Schwimmzügen erreicht er die Stelle, wo er das Kind zuletzt gesehen hat. Er taucht unter, kann den kleinen Körper aber nirgends ausmachen. Beim zweiten Versuch bekommt er einen zierlichen Arm zu fassen und zieht das Kind an die Oberfläche. Nun erst merkt er wie ihn selbst die Kälte lähmt. Mit Mühe schwimmt er mit dem leblosen, kleinen Jungen gegen die Strömung ans Ufer. Die Frau zieht das Kind aus dem Wasser und stößt einen schrillen Schrei aus. Sie hält ihren kleinen Sohn in den Armen und schüttelt ihn. Auch der Vater des Kindes ist wieder ans Ufer geklettert. Johannes nimmt das Kind, hält seinen Kopf nach unten und klopft ihm mehrmals auf den Rücken. Der Junge hustet heftig, spuckt einen Schwall Wasser aus und atmet. Seine Mutter kniet neben ihnen und ist in einen gebetsartigen Singsang gefallen. Der Vater, dieser riesige Kerl, weint hemmungslos. Johannes sieht an sich herunter. Er friert in seiner nassen Kleidung. „Es ist mir in dieser Stadt scheinbar nicht vergönnt einen intakten Anzug zu besitzen“, murmelt er. Der Mann kommt plötzlich auf ihn zu und schließt ihn in seine Arme. Seine kräftigen Muskeln zerquetschen ihn fast. „Danke! Danke, guter Mann, Sie schickt der Himmel! Sie haben meinen Louis gerettet. Ich stehe tief in Ihrer Schuld!“ Die Frau schimpft