Der Uhrmacher winkt Johannes und Opa Maltus in seine Werkstatt als die beiden einige Tage später dort auftauchen. Eine komplizierte Taschenuhr ist in die Halterung der Werkbank eingespannt. Der Deckel ist geöffnet, sodass man das filigrane Uhrwerk betrachten kann. „Seht mal her, eine kostbare Breguet, über 120 Jahre alt, mit mehreren Komplikationen. Sowas bekommt man nicht mehr oft zur Reparatur. Das war noch Wertarbeit. Sogar Napoleon hat eine Breguet besessen. Er erklärt andächtig die filigrane Mechanik. „Zeig mal deine Hände, Johannes! Hmm, schmale Uhrmacherhände sind das nicht gerade. Vielleicht biste trotzdem geschickt genug. Nimm mal die Feder dort mit der Pinzette auf und reich sie mir, aber ganz vorsichtig.“ Johannes kommt seiner Aufforderung nach. Es gelingt ihm auf Anhieb. „Siehste, wirste mal Uhrmacher“, lobt Weintraub. „Oder Klavierspieler“, wirft Frau Weintraub ein, die gerade die Treppe heruntergekommen ist. „Hast Massel, mein Junge, habe ich doch gerade heiße Schokolade gemacht!“ Sie lächelt gütig. Johannes und Frau Weintraub steigen die Treppe hinauf. Am Esstisch in der guten Stube sitzt Rebecca bereits vor einer dampfenden Tasse und ihren Notenblättern. „Pass auf, Kind, dass du mir bloß keine Schokoladenflecken auf die Noten machst!“, ermahnt Frau Weintraub ihre Tochter.
Rebecca spielt, etwas holprig zwar, ein temperamentvolles Klavierstück. Frau Weintraub nimmt Johannes Hand und wiegt sich mit ihm zu einem Tanz, was ihm ein bisschen peinlich ist. „Das Stück heißt Hava Nagila und ist ein altes hebräisches Volkslied. Hava Nagila heißt: Lasst uns glücklich sein“, erklärt sie. Dann setzt Frau Weintraub sich selbst ans Instrument und spielt gekonnt ein beeindruckendes Stück. „Das ist von Brahms, er hieß übrigens Johannes mit Vornamen und wurde hier in Hamburg geboren.“ Sie lächelt ihn freundlich an. „Ungarische Tänze, wird eigentlich vierhändig gespielt.“ „Das klingt wirklich großartig, Frau Weintraub“, lobt Johannes. An Rebecca gerichtet ergänzt er eilig: „Und du kannst es auch schon so gut.“ Rebecca strahlt. „Willst du es lernen? Ich erteile dir gern ein paar Unterrichtsstunden“, bietet Frau Weintraub an. Johannes zögert. „Komm setz dich hier her. Sie lässt ihn einige Tonleitern spielen. „Du hast wirklich geschickte Hände“, stellt sie fest.
Einige Monate später spielt Johannes in Weintraubs guter Stube bereits halbwegs passabel einfache Stücke. Mama und Papa wissen nichts von seinen heimlichen Klavierstunden bei Frau Weintraub, weil Papa die Weintraubs nicht mag, auch Auguste nicht, die würde petzen, weil sie Rebecca nicht leiden kann. Nur Wilhelmine und Opa wissen Bescheid. Johannes vermutet, dass Opa die Klavierstunden bezahlt, er weiß es aber nicht genau. „Wechselst du im nächsten Jahr auf eine höhere Schule?“, fragt Rebecca. „Ja, wenn ich die Aufnahmeprüfung schaffe, auf die Oberrealschule an der Bogenstraße, sind ja nur zehn Minuten von zu Hause.“ Sie nickt zufrieden.
Johannes und sein Schulfreund Kurt Krahn klettern aus Opas Automobil. Die beiden Jungen hatten sich zu zweit auf den Beifahrersitz gequetscht, der Opel ist ja nur ein Zweisitzer. „Opa, beeil dich, das Spiel geht gleich los, ruft Johannes. „Man sinnig, `n oller Mann ist kein D-Zug“, keucht Opa. Sie parken in der Nähe des Altonaer Stadions, wo heute das Endspiel zur Deutschen Fußballmeisterschaft 1928 stattfindet: Hamburger Sportverein gegen Hertha BSC Berlin. Spät aber rechtzeitig drängen sie sich in das mit 50.000 Menschen rappelvolle Stadion. Kurz darauf ist Anpfiff und schon nach fünf Spielminuten schießt Otto Harder, von den Anhängern des HSV nur Tull genannt, seine Mannschaft in Führung. Das Publikum jubelt begeistert. „Jawoll Tull! Weiter so!“, ruft Opa. „Wär doch gelacht, wenn wir Hertha nicht ein zweites Mal die Meisterschaft abjagen.“ Johannes und Kurt müssen sich auf die Zehenspitzen stellen, um etwas zu sehen. Gerade hatte der Hamburger Torwart Wilhelm Blunk einen Kopfball von Willi Kirsei abgewehrt. „Das war knapp!“, kommentiert Johannes. Noch in der ersten Halbzeit geht der HSV mit 3:00 in Führung. Nach der Pause, schießen die Hamburger zwei weitere Tore. Die Stimmung im Stadion kocht. Der Meistertitel scheint gesichert. „Das holen die Berliner niemals wieder auf!“, ruft Opa begeistert. Schade, dass Papa nicht dabei ist, denkt Johannes, immer hat er nur Zeit für sein Hotel. Am Ende steht es 5:2 für den HSV, der Jubel ist groß. „Darauf müssen wir noch was trinken gehen“, schlägt Opa vor, als sie in seinen Opel Laubfrosch steigen. „Alster oder Elbe?“, fragt er gleich darauf. „Elbe! Zum Hafen!“, rufen die beiden.
Später als sie auf der Dachterrasse vom Fährhaus Sankt Pauli vor ihren Gläsern sitzen und den grandiosen Blick über den Hafen genießen, reden sie noch eine Zeit lang über das Spiel und wie der HSV Hertha nass gemacht hat. „Wie ist eigentlich das Hamburger Schulturnier in diesem Sommer ausgegangen?“, fragt Opa die beiden Jungen. „Dritter Platz, 3:0 gegen Veddel immerhin, aber Barmbek hat wieder den Pokal geholt.“ Die Fußballrivalität der Hamburger Schulen entspann sich zwischen dem linken und rechten Alsterufer. Und die vom linken Ufer hatten mal wieder gewonnen. „Und hat einer von euch beiden wenigstens ein Tor geschossen?“ „Nee, bin ja nur Außenverteidiger“, erklärt Johannes. Kurt hatte als Mittelstürmer immerhin einmal getroffen. Opa Maltus’ Blick schweift über den Hafen. Unter den Helgenkranen bei Blohm & Voss ragen die Aufbauten eines weiteren Ozeanriesen hervor. „Die Europa! Bald ist Stapellauf. Dass ich das noch erlebe, dass der Norddeutsche Lloyd hier in Hamburg auf der Hauswerft der HAPAG so ein phantastisches Schiff baut“, seufzt Opa. „Das Schwesterschiff, das bauen sie doch in Bremen“, merkt Johannes an. Opa blickt ihn verständnislos an. „Wäre ja noch schöner, hier in Hamburg so ein Schiff ausgerechnet auf den Namen Bremen zu taufen.“ Er schüttelt entrüstet den Kopf. „Jammerschade, bald haben die Bremer die größten und schnellsten Dampfer auf dem Atlantik“, schnauft Opa. Die alte Rivalität zwischen den Hansestädten. Die Schwesterschiffe Europa und Bremen, der zukünftige Stolz der deutschen Hochseeflotte, sollten im nächsten Jahr fertiggestellt werden und ihren wöchentlichen Liniendienst von Bremerhaven nach New York aufnehmen und das blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung für Deutschland gewinnen. Die Dampfturbinen der Europa sollen mehr als 130.000 PS leisten, weiß Johannes. Schön, dass Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg wieder solche Schiffe bauen kann, denkt er. Überhaupt, geht es ihnen ziemlich gut. Er erinnert noch die schlechte Zeit, wenige Jahre zuvor als alles grau und düster war. Inzwischen verdient Papa scheinbar eine Menge Geld mit dem Hotel.
Johannes und sein Freund Kurt trödeln auf dem Heimweg von der Schule, werfen kleine Steine nach den Enten auf dem Isebekkanal. Als sie vor Opas Wohnblock ankommen, hat Hauswart Pagel gerade seinen Hanomag Kommissbrot angeworfen. Der Einzylindermotor auf der Hinterachse versetzt den Wagen in ein rhythmisches Wippen, was charakteristisch für dieses Auto ist und witzig aussieht. „Kiek mol, Pagels Kommissbrot hüppt wedder wie ‘n Karnickel“, amüsiert sich einer der Jungen, die am Straßenrand Murmeln spielen, vorlaut. „Ein Kilo Blech, ein Kilo Lack, fertig ist der Hanomag!“, fügt sein Spielkamerad hinzu. Alle lachen, auch Johannes und Kurt. „Ich werd’ euch Beine machen, verdammte Bengels“, brüllt Pagel und droht mit der Faust. Die Jungen verziehen sich grinsend. Johannes will sich von Kurt verabschieden. „Gehst heute zu deinem Opa?“, fragt Kurt. „Ja.“ „Dann besucht ihr wohl wieder den Uhrmacherjuden, drüben in Klein Jerusalem?“, argwöhnt er. Johannes zögert verunsichert. „Mein Vater sagt, mit Juden lässt man sich nicht ein, außerdem sind sie ‘ne minderwertige Rasse und Schädlinge am Volkskörper“, erklärt Kurt ziemlich laut. „Nee, ich will nur meinen Opa besuchen“, antwortet Johannes und wendet sich ab. „Bist mit der Tochter vom Uhrmacherjuden gesehen worden“, setzt Kurt in einem anklagenden Tonfall nach. „Kenne sie eben“, murmelt Johannes so beiläufig wie möglich und verschwindet schnell im Hauseingang. Er kommt sich ein wenig schäbig vor, Rebecca fast verleugnet zu haben, wo sie ihm doch eine Menge bedeutet. Und was sollte der Unsinn mit der minderwertigen Rasse? Turnlehrer Hackbarth hatte neulich auch so etwas gesagt. Die Weintraubs konnten damit kaum gemeint sein. Sie sind in seinen Augen sehr kultivierte Leute, die gebildeter sind, als die meisten Menschen, die er kennt. Dass er jeden Donnerstagnachmittag bei Frau Weintraub zur Klavierstunde geht, hatte er allerdings niemandem in der Schule erzählt,