9:55 Uhr, die Zeit kriecht dahin. Trotzdem spürt er einen Hauch Optimismus, wie sich das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden beginnt. Der Detective kommt zurück. Seinem Gesichtsausdruck ist nicht anzumerken, ob er etwas Gutes oder Schlechtes zu verkünden hat. „Was meinen Sie, wann die Bremen New York verlassen wird?“, fragt er leise in vertraulichem Tonfall. „Vermutlich noch heute, sobald die Zollbehörde der Vereinigten Staaten von Amerika ihre Untersuchungen beendet hat, Sir.“ „Aha!“ Nachdenkliches Schweigen. „Und Sie sind ein Gegner Hitlers und wollen auf keinen Fall zurück auf das Schiff.“ „Richtig, Sir, auf keinen Fall!“ Der Detective sieht ihn streng an, scheint mit sich zu ringen. Johannes versucht sich nicht anmerken zu lassen, dass sein Herz wie rasend schlägt. Schließlich erhebt sich der Beamte und winkt einen Uniformierten heran. „Officer, bringen Sie diesen unverschämten Kerl zurück in seine Zelle und lassen Sie ihn frühestens morgen wieder heraus!“
Acht Stunden später gleitet der Schnelldampfer Bremen langsam in die Flussmitte des Hudson. Fast die komplette Mannschaft ist an Deck angetreten. Das Bordorchester spielt die deutsche Nationalhymne. Die Mannschaft singt den Text mit und hat den rechten Arm stramm zum Himmel gestreckt. Die Passagiere der Normandie stehen an Deck und winken herüber. Der französische Atlantikliner dippt die Flagge zum Abschied.
Als man Johannes Seibel am nächsten Vormittag freilässt, händigt man ihm sein immer noch feuchtes Segeltuchpäckchen, sein Geld und seinen Pass aus und teilt ihm mit, dass er fünf Dollar Strafe bezahlen muss für seine nächtlichen Eskapaden im Hafen, sowie für Kost und Logis bei Uncle Sam. Er zahlt und erhält eine Quittung. Außerdem werde man ihn umgehend der zentralen Einwanderungsbehörde zuführen. Zwanzig Minuten später sitzt er mit zwei Männern und einer Frau hinten in einem Lastwagen der Polizei. Auch diese Situation weckt düstere Erinnerungen bei ihm. Stundenlang verhört man ihn darüber, ob er womöglich ein deutscher Spion sei, bis es ihm gelingt die Befürchtungen der Einwanderungsbehörde zu zerstreuen. Nach der obligatorischen ärztlichen Untersuchung erhält er schließlich ein Gesundheitszeugnis und ein Formular mit einem Dienstsiegel, Status: bis auf weiteres geduldeter Immigrant ohne Arbeitserlaubnis. Man kassiert 25 Cent für die ärztliche Untersuchung und teilt ihm mit, dass er das Stadtgebiet von New York nicht verlassen darf, sich wöchentlich bei der Behörde zu melden habe und sich am besten an eine der deutschen Kirchengemeinden wenden soll. Dann ist er entlassen und tritt hinaus in den sonnigen New Yorker Septembernachmittag. Johannes kann sein Glück kaum fassen, ausgerechnet an einen Detective geraten zu sein, der sich seiner deutschen Wurzeln erinnerte und so etwas wie ein Gewissen hat. Er versucht sich zu orientieren und macht sich auf den Weg.
Nach der zweiten Nacht in einer erbärmlichen verlausten Massenunterkunft, wo es schlimmer als in jener Gefängniszelle war, ist Johannes Seibel erneut auf Arbeitssuche. In den belebten Straßen Manhattans machen die Zeitungsjungen, welche lautstark die letzten Neuigkeiten ausrufen, heute besonders gute Geschäfte: „Extrablatt! Extrablatt! Krieg in Europa! Hitlers Truppen marschieren in Polen ein! England und Frankreich stellen Ultimatum!“ hört man sie überall rufen. Johannes kauft den Herald Tribune. Der Funke am Pulverfass soll von Polen provozierte Grenzzwischenfälle gewesen sein, woraufhin die deutsche Wehrmacht nur wenige Stunden später am Morgen des 1. September mit hunderttausenden Soldaten die polnische Grenze auf breiter Front überrennt, ist dort mit zweifelndem Unterton zu lesen. Erst heute hatten die Briten und Franzosen dem Deutschen Reich ein Ultimatum gestellt, sich umgehend aus Polen zurückzuziehen, andernfalls kriegerische Handlungen gegen Deutschland einzuleiten. Niemals würde Hitler nachgeben, auch wenn Deutschland wieder einen Zweifrontenkrieg führen muss, denkt Johannes. Dass Frankreich und England sofort entschlossen angriffen, während die deutsche Wehrmacht noch in Polen beschäftigt war, und Hitler schnell besiegen würden, scheint niemand zu glauben. Zuhause ist Krieg! Er denkt an seine Familie in Hamburg und an Rebecca und ihre Mutter, die gottseidank in Sicherheit waren. Die beiden Fotographien in seiner Brieftasche hatten die Feuchtigkeit einigermaßen überstanden. Die erste Fotographie zeigt seine Familie, Mutter, Vater, seine beiden Schwestern und ihn selbst, die andere zeigt Rebecca und ihn am Ufer der Alster. Wie ein heimtückisches Gift sickern immer wieder Zweifel in seine Gedanken, sie alle zurückgelassen zu haben. Hatte er eine bessere Wahl? Was könnte er tun, dass Rebecca und ihre Mutter auch hierher kommen können? Ob die Normandie noch im Hafen liegt und nach Frankreich ausläuft? Es spielt keine Rolle, er hat nicht annähernd genug Geld für die Überfahrt und wenn Frankreich Deutschland den Krieg erklärt, werden sie ihn wohl kaum auf das Schiff lassen, denkt er verdrossen.
Hamburg, Mai 1927
Johannes wartet ungeduldig vor dem riesigen neuen Klinkerbau an der Hochbahnstation Hoheluftbrücke. Er versteckt sich hinter einer Litfaßsäule, damit ihn bloß keiner von seinen Schulkameraden oder womöglich ein Lehrer entdeckt. Seinen Schulranzen hat er zwar dabei, allerdings wird er heute ausnahmsweise die Schule schwänzen. Und das Beste ist: Opa ist sein Komplize. „Kein Wort zu Niemandem!“, hatte der ihm gestern Abend noch verschwörerisch zugeraunt. Heute gibt es auf der Werft Blohm & Voss einen besonderen Stapellauf zu sehen. Die Cap Arcona, der größte Dampfer der Hamburg-Süd Reederei, soll dem nassen Element übergeben werden. Opa ist der Meinung, dass es an solchen Tagen ohnehin per Regierungserlass schulfrei geben sollte, außerdem ist sein Enkel ein ziemlich guter Schüler. Also hatte Opa seine Beziehungen zu seinem früheren Arbeitgeber, der HAPAG Reederei, spielen lassen, und zwei der begehrten Plätze auf der reedereieigenen Barkasse ergattert. So konnte man den Stapellauf aus nächster Nähe erleben. Johannes weiß aus Opas Erzählungen, dass es vor dem großem Krieg noch viel größere Dampfer gegeben hat, welche man jedoch an den Feind abliefern musste – ein Jammer! Der riesige Imperator, ein gigantisches Schiff und die noch größere Vaterland – alles weg! Der alte Ballin hatte Gift genommen damals, weil er den Verlust seiner stolzen Flotte nicht ertragen konnte. Der Riesendampfer Imperator habe an der Bugspitze eine Weltkugel gehabt, auf der habe gestanden: Mein Feld ist die Welt! Der Leitspruch der HAPAG, welchen Opa oft zitiert.
Endlich biegt Opas grüner Opel um die Ecke. Schnell steigt er in das Automobil und duckt sich ein wenig, weil gerade zwei seiner Klassenkameraden vorbeikommen. Wenn er nicht gerade die Schule schwänzen würde, wäre er stolz gewesen, wenn sie ihn in dem Auto gesehen hätten. Opa gibt Gas, der Wagen, offizielle Bezeichnung Opel 4/12PS, im Volksmund Opel Laubfrosch genannt, beschleunigt. Opel Laubfrosch, weil das Auto relativ klein ist und von der Firma Opel in ungewöhnlichem grün ausgeliefert wurde, wo Automobile doch eigentlich schwarz lackiert waren. Aber immer noch besser als der alberne, im Volksmund nur Kommissbrot genannte, Hanomag vom Hauswart Pagel aus dem Hochparterre