„Ist ja schon gut, mein Junge“, Christos lacht in seinen weißen Bart und dreht sich zum Herd um. Sein Rücken ist dabei leicht gebeugt. Und ich meine, die Anstrengung zu erkennen, die er in diesem Moment bei seiner Arbeit fühlt. Es wird Zeit, dass Apoll hier mal wieder aufkreuzt, denke ich. Der Typ, auf den nie jemand sauer ist. Obwohl er andauernd unterwegs ist, Sterneküche in London oder Madrid lernt, pah. Und dann rennt der immer in diesen schrägen Ska-Klamotten durch die Gegend. Diese aufgekrempelten Jeanshosen, die schweren, schwarzen Boots, diese Mütze mit Schirm auf dem rasierten Schädel. Ich merke, wie blinde Wut in mir aufsteigt – und wie sich meine Augen in Richtung Decke rollen wollen. Ich unterdrücke den Impuls. Ich tauche beide Hände tief in das seifige Spülwasser und träume von heute Nacht. Mehr bleibt mir im Augenblick sowieso nicht übrig.
II
Es ist stockdunkel in dem geräumigen Zimmer hoch über den Dächern der kleinen Stadt. Nicht einmal das Weiße in ihren Augen ist zu erkennen. Ich rolle mich von ihr herunter und stoße dabei einen tiefen, befriedigten Seufzer aus.
„Nicht so laut!“
„Himmel, hier ist doch niemand!“
„Die Wände sind so dünn wie Papier, ich will nicht, dass meine Schwester mitbekommt, dass ich nicht alleine hier bin, du weißt doch, wie sie ist.“
„Denkst du, ich will das? Denkst du, ich will, dass wieder alle auf der Insel was über mich zu tratschen haben?“
„Himmel, dann sei nicht so laut!“
„Weißt du was? Ich haue ab“, ich steige mit Schwung aus dem Bett, das sich eben noch so gemütlich angefühlt hat. Gleichzeitig taste ich in der Dunkelheit nach meiner Unterhose, meiner Jeans, dem T-Shirt. Wo sind bloß Hoodie und Schuhe geblieben, frage ich mich, während ich auf der Bettkante sitze. Sie schmiegt sich von hinten an meinen Rücken, knabbert an meinem Ohr.
„Das war doch nicht böse gemeint. Komm wieder ins Bett, bleib noch ein bisschen hier,“ schnurrt sie wie ein Kätzchen. Doch mir ist für heute die Lust vergangen. Wenn ich eine zickige Alte wollte, dann hätte ich eine feste Freundin.
„Lass mal Süße, ich pack es jetzt. Morgen muss ich ziemlich früh wieder raus und zur Arbeit.“ Ich schnappe mir meinen Rucksack und schon fällt mit einem leisen Plopp die Tür hinter mir ins Schloss. Mein alter, rostiger Roller wartet geduldig vor ihrer auf alt getrimmten, aber ultramodernen Ferienwohnung. Die Straße davor ist schmal und liegt völlig im Dunkeln. Ab nach Hause, bevor mich noch jemand sieht!
III
Zehn Facebook-Messenger-Nachrichten, zehn Stück sind in den letzten Minuten eingegangen. Ich grinse wie ein Honigkuchenpferd. Von, „dass du einfach abhaust“ bis „lass uns das wiederholen“ steht da alles drin. Und ich bin mir sehr sicher, dass wir das wiederholen werden, aber dann nach meinen Regeln. Heute habe ich erst einmal die Abendschicht, Apoll würde wohl wieder zurück sein. Ich habe keinen Bock, nicht auf das dreckige Geschirr und nicht auf den Chef, der sogar noch ein Jahr jünger ist als ich. Fast ein Alter und ihm gehört schon eine Taverne. Ich versuche immer, Mutter zu erklären, dass er die von seinem Vater übernommen hat, quasi geerbt. Doch das Argument lässt sie nicht gelten. Ich hätte ja ebenfalls etwas aus mir machen können. Ja, verdammt. Ich weiß, dass ich etwas aus mir hätte machen können.
Versager hin oder her, ich beschließe in dieser Sekunde, den Spüljob für heute sausen zu lassen und mich mit der Süßen zu treffen. Sie ist auf einmal ziemlich redselig. Na, zumindest in der lautlosen und schriftlichen Kommunikation. Sie brauchen meine Hilfe in der Taverne an Ostern sowieso, wenn sie nicht mit ihrem dreckigen Geschirr an den Feiertagen alleine dastehen wollen. Also was soll’s, wenn ich heute nicht dort auftauche, die melden sich schon wieder. Ich streife mir den Hoodie über den Kopf und verlasse meine Wohnung. Unten auf der Straße treffe ich auf Mutter. Das war klar! Sie kommt von der Gassirunde mit unserem Hund. „Eigentlich ist das dein Hund,“ ätzt die Stimme in meinem Kopf.
„Du bist schon wieder viel zu spät dran. Gestern warst du auch viel zu spät zum Arbeiten bei Christos in der Taverne.“
„Woher weißt du das denn schon wieder? Du warst doch gar nicht dort, nicht mal in der Nähe.“
„Ich habe ihn heute Vormittag in der Stadt am Marktstand bei den Fischern getroffen. Er war sauer auf dich. Und ich bin es ebenfalls. Musst du mich immer so enttäuschen? Was soll er denn über mich denken – was er über dich denkt, das weiß ich bereits!“
Genau genommen bin ich eine halbe Stunde zu früh dran. Zu früh für mein Date. Nur für den Geschirr-Job bin ich seit zehn Minuten überfällig. Ich schaue meiner Mutter in die zornigen Augen und sehe, dass ich keine Chance gegen sie habe. Niemand hat eine Chance gegen diese Frau, die mit einem alten Seebären verheiratet ist. Er hat sie damals von einer seiner Fahrten nach Südamerika mit nach Griechenland gebracht. Und wenn er zu diesem Zeitpunkt auch nur eine Sekunde lang gehofft hatte, sich auf diese Weise ein stilles, fügsames Mädchen nach Hause geholt zu haben, hatte er sich gewaltig in Mutter getäuscht. Keine Ahnung, ob ich in einem fremden Land, mit einer mir unbekannten Sprache auch nur einen Tag so gut überleben würde wie meine Mutter. Inzwischen beherrschte sie kaum noch die Sprache ihrer Vorfahren, zumindest habe ich sie schon lange nicht mehr darin sprechen gehört.
Ich tippe die Absage an die Süße ins Handy, drücke schweren Herzens auf Absenden und fahre zur Taverne. Dann muss ich eben doch schuften!
Apoll
I
Das vertraute Knarzen der Treppe klingt wie Musik in meinen Ohren. Doch da ist noch ein anderes heimeliges Geräusch. Während ich aus der Wohnung hinunterkomme, kann ich ihn bereits bei der Arbeit hören. Und dann sehe ich ihn auch. Papa steht mit dem Rücken zu mir am Tisch und hackt etwas. Das Messer klopft gleichmäßig und zackig auf das Holzbrett. In der Luft liegt der Duft der würzigen Tomatensoße, die seit einer Weile in einem riesigen Topf auf dem Herd köchelt. Es riecht nach Rosmarin und Knoblauch. Es duftet nach meinem Zuhause.
Ich wünsche mir immer wieder von ihm, dass er sich mehr Ruhe gönnt. Aber ich weiß auch, dass er Angst hat. Angst davor, wenn er den Kochlöffel zur Seite legt, selbst den Löffel abzugeben. Das sind seine Worte, nicht meine. Vor einem Jahr hat er uns allen einen gewaltigen Schreck eingejagt. Als Mama an einem Donnerstag gegen Mittag in die Tavernenküche kam, um sich etwas Mehl für einen Kuchen zu holen, den sie in ihrer eigenen Küche im Haus nebenan backen wollte, fand sie ihn. Er lag auf dem Boden vor dem Herd. Er röchelte. Stöhnte laut. Ich werde niemals den Schrei vergessen, den Mama in diesem Augenblick ausstieß und der mich in einer Sekunde aus meinem Zimmer hinaus- und die Treppe hinuntertrieb. Später sagte sie zu mir: „Apollonios, das war der Schreck. Der Schreck davor, was ich tun soll, wenn er nicht mehr bei uns ist. Wir sind seit 35 Jahren jeden Tag zusammen. Was soll ich denn ohne deinen Papa machen?“
Mama ist gut zehn Jahre jünger als Papa. Er stand hier schon hinter dem Herd, als sie sich kennengelernt haben. Seine älteren Brüder interessierten sich nicht für die Taverne, also musste er ran. Großvater war damals weit über 70 Jahre alt und nicht bereit, das Geschäft an fremde Leute zu übergeben. Also brachte er seinem Jüngsten das Kochen bei, die Liebe für die Produkte aus dem Meer und von den Feldern unserer Heimat. Und er lehrte ihn die traditionellen Rezepte, die schon seit drei Generationen in unserer Taverne weitergegeben werden. Als er seinem Sohn alles beigebracht hatte, was er wusste und was es zu wissen gab, schloss er seine Augen. Ehrlich! An dem Tag, an dem er Christos sagte, dass es nichts mehr gab, was er ihm noch zeigen könnte, schlief er friedlich für immer in seinem Bett ein. Und mein Papa, gerade erst 19 Jahre alt, stand plötzlich mit einer eigenen Taverne da – und mit Gästen, die nur die allerbesten Speisen gewohnt waren.
Seitdem kocht Christos. Und die Menschen lieben seine Gerichte, auch heute noch. Die Touristen genauso wie die Einheimischen, die sogar im Winter dafür sorgen, dass bei uns die Tische immer gut besetzt sind. Die dafür sorgen, dass wir nicht über unser Geschäft klagen können.