In dieser Sekunde kann ich den strengen Blick meiner Mutter in meinem Rücken direkt fühlen. Ich drehe mich erschrocken um. Haben sich ihre blitzenden Augen gerade im Fenster gespiegelt? Oder spielt mir mein Kopf einen üblen Streich? Da ist niemand, beruhige ich mich selbst. Da ist niemand, der sich in der Scheibe spiegelt – außer mir. Es war nur ein Flackern aus der Vergangenheit. Ein heller Blitz, wie aus meiner Kamera. Es war die Erinnerung an diesen einen Moment, als ich meiner Mutter das Herz brach. Und wenn ich sie nicht immer und immer wieder wütend auf mich machen wollte und enttäuschen, dann sollte ich jetzt in meine Hosen steigen und losfahren.
Es ist ein echter Jammer, dass meine Familie nicht wenigstens ein wenig größer ist. Mutter und Vater sind alt, und meine Schwester ist zu ihrem Mann nach Thessaloniki gezogen. Ja, prima! Immer bleibt alles an mir hängen. Seit vielen Jahren versorge ich den Olivenhain, der unserer Familie gehört, nun schon ganz alleine. Und ich hasse es aus tiefster Seele, jeden Winter aufs Neue. Seit der Woche vor Weihnachten schlage ich mich mit den reifen Früchten herum, die dringend geerntet und zur Ölmühle gebracht werden müssen. Inzwischen sind fast alle von den knochigen Bäumen herunter. Ihr Öl wird uns einen kleinen Zusatzverdienst einbringen.
Das Geld ist mir ganz egal. Wilder Zorn wütet in meinem Kopf, da ich meinen Rücken kaum spüre, mir die Arme unendlich schmerzen. Auch wenn sich, zugegeben, die zusätzlichen Muskeln in meinem Körper gut anfühlen. Meine Hände haben üble Schwielen bekommen, die brennen, und meine Nase läuft ununterbrochen. Denn entweder regnet es andauernd in diesem verdammten Winter oder es ist viel zu kalt. Ich habe mir eine Erkältung eingefangen – wie jedes verdammte Jahr. Doch Mutter würde sich durch meine laufende Nase nicht erweichen lassen. Sie würde mir die Arbeit nicht ersparen.
II
„Du bist heute spät dran!“ Ich rolle mit meinen Augen, als ich Mutter unten an der Treppe treffe. Sie und Vater wohnen im selben Haus, in einer eigenen Wohnung unter meiner. Separat zwar, aber immer noch sehr nah.
„Dir auch einen guten Morgen. Es ist gerade 9.30 Uhr“, antworte ich und bin schon genervt.
„Und dieser schreckliche Bart. Wie lang soll der noch werden?“
„Mama, niemanden interessiert die Länge meines Bartes. Die Oliven am allerwenigsten!“
„Mich interessiert es, wie du herumläufst! Und Christos auch!“
„Was um alles in der Welt, hat der alte Christos mit meinem Bart zu schaffen?“ Inzwischen wünschte ich wirklich, ich wäre etwas früher aufgestanden und so der elenden Standpauke meiner Mutter entgangen.
„Ich habe ihn gestern zufällig getroffen. Und er hat bald wieder Arbeit in der Taverne für dich.“
„Da spüle ich die dreckigen Teller und Schüsseln. Und dem Geschirr ist es ebenfalls komplett egal, wie ich dabei aussehe“, murmele ich in meinen in der Tat zotteligen Winterbart. Die anschmiegsame Süße von vorletzter Nacht steht auf die störrischen Haare, denke ich und grinse.
„Sei nicht so frech zu deiner Mutter!“
„Mama, ich bin 29 Jahre alt!“
„Eben darum. Und jetzt mach, dass du in die Oliven kommst, bevor dein Vater sich wieder aufregt. Du weißt, dass es ihm schlecht geht.“
Meinem Vater, dem seit einem Unfall auf See der linke Arm fehlt, geht es gesundheitlich wirklich nicht besonders gut. Aber er hat sich noch niemals in seinem ganzen Leben über irgendetwas aufgeregt. Was mein großes Glück ist! Denn ohne seine ruhige, besonnene Art hätte Mutter mich wahrscheinlich damals rausgeworfen und aus der Familie verstoßen. Ich atme tief ein, lasse mich auf meinen alten Roller fallen und fahre los. Ich kenne den Weg zum Olivenhain blind. Jedes Schlagloch, jede Kurve. Ich könnte ihn mit verbundenen Augen fahren, wären da nicht die dämlichen Streuner von Katzen überall. Deren Leben ist mir zwar herzlich egal. Aber meines nicht, auch wenn es momentan nicht wirklich richtig gut für mich läuft.
Ihr könnt mich alle mal gerne haben, denke ich trotzig. Ich werde euch schon noch zeigen, dass ich nicht der Versager bin, für den ihr mich alle haltet! Bevor ich die schmale Straße ins Inselinnere nehme, fahre ich beim Café kurz vorm Kanal vorbei. Hier teilt sich die Insel, die mein Zuhause ist, in einen kleineren Part, der sich rund um den Berg befindet, den ich von meinem Fenster aus sehen kann. Und in einen größeren Teil, auf dem ich wohne. Eine Insel, in zwei Teile getrennt. So wie ich. Ein Mann, in zwei Personen geteilt. Der eine nur noch blasse Erinnerung an eine vergangene Zeit, in der die Zukunft durch und durch rosig schien. Der andere im Hier und Jetzt – angeschlagen, aber längst noch nicht k. o., das werdet ihr schon alle sehen.
Vanessa erkennt mich durchs Fenster. Und bis ich bei ihr am Tresen angekommen bin, hat sie Kaffee, viel Milch und drei Löffel Zucker bereits in einen Becher gefüllt, alles mit einem Deckel verschlossen und in eine kleine Tüte gestellt. Ich lege ihr das abgezählte Geld auf den Tresen und gehe direkt zurück zu meinem Roller. Dort hänge ich die Tüte an den rostigen Lenker und fahre los. Die feuchte, kühle Luft wirkt belebend auf mich. Und die Aleppo-Kiefern entlang des Weges verströmen diesen betörenden Duft, den es nur hier gibt. Und der mich dieses tiefe Heimatgefühl spüren lässt. Auf zu den Oliven, den verhassten Oliven.
III
Unser Hain liegt im Inneren der kleinen Insel. Hier reiht sich ein Gemüsefeld an das nächste, eine Reihe Olivenbäume an die folgende. Hin und wieder hat jemand Zitronen angebaut. Bevor ich mit meiner Arbeit beginne, setze ich mich auf die kleine Steinmauer, die unseren Abschnitt markiert, und lasse die Füße hinunterbaumeln. Ich nehme meinen Kaffeebecher, mache den Deckel ab und genieße den ersten heißen Schluck. Süß und stark. So mag ich meinen Kaffee am liebsten. Hinter den dicken Wolken linst tatsächlich die Sonne hervor. Ihre Strahlen wärmen mein Gesicht und tauchen alles in dieses Zauberlicht, das es nur hier gibt. Ich hole meine Kamera aus dem Rucksack und schieße ein paar Fotos: Wolken, Sonne, die Hügel, frisch sprießendes Grün. Später werde ich zu Hause am Computer nachschauen, ob ich damit etwas anfangen kann. Ob ich noch ein bisschen mehr daraus machen kann.
Unter meiner schwarzen Wollmütze wird mir langsam heiß. Wenn alles gut geht, werde ich heute die Ernte abschließen und dann damit beginnen, die Bäume für die nächste Saison vorzubereiten. Sie müssen kontrolliert und ausgeschnitten werden. Das wird wahrscheinlich den Rest der Woche, höchstens aber bis Mitte der nächsten dauern. Dann bin ich endlich fertig – zumindest für dieses Jahr. Dann werde ich nicht mehr jeden Abend riechen, als wäre ich selbst einer dieser knochigen, alten Olivenbäume. Erdig, bitter, dumpf und nach Harz. Ihr hat es gefallen, träume ich mich in die vorletzte Nacht zurück. Da schreckt mich eine laute Autohupe auf. Jemand fährt vorbei und winkt, und ich weiß, der gemütliche Teil des Morgens ist vorüber.
IV
Ich komme aus der Dusche und bin froh, dass der Tag im Olivenhain ohne weitere Zwischenfälle vergangen ist. Da piepst mein Handy. Eine neue Nachricht ist über Facebook eingegangen. Das konnte nun wirklich nur die Süße mit der weichen Haut sein.
Sehen wir uns heute Nacht?
Touristinnen, die ich auf der Insel kennenlerne und auf die ich Lust habe, gebe ich niemals meine Telefonnummer. Ich kontaktiere sie lieber über Facebook, per Messenger. Inklusive separatem Piepton, man weiß ja nie! Und wenn sie wieder abreisen oder sich mir eine bessere Option bietet, ist die Verbindung easy gelöscht. Nervt eine trotzdem, blockiere ich sie. Ende. Aus.
Um diese frühe Zeit im Jahr bin ich bei den Ladys allerdings weit weniger wählerisch als im Hochsommer, wenn ich mich jeden Tag um Frauen im Bikini kümmere. Jetzt gibt es hier kaum Fremde, höchstens ein paar asiatische Tagestouristen, die mit der Fähre aus Piräus kommen und direkt weiter auf eine der Nachbarinseln reisen. Oder was weiß ich, wohin die fahren. Wenn doch einmal eine, meist eine der Städterinnen aus Athen, die sich daheim langweilt und hier ein Wochenendhäuschen besitzt, für ein paar Tage vorbeikommt, bleibe ich natürlich am Ball.
Und