In all den Jahren. Barbara Leciejewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara Leciejewski
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783862823727
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      Ich gab ihm die Hand.

      „Wie geht es dir?“, fragte ich.

      „Jetzt gerade ganz gut“, sagte er, „aber normalerweise stecke ich mitten im Lernen für meine Prüfung im März.“

      Ich versuchte, mich zu erinnern, welche Prüfung er meinen könnte. Er studierte irgendetwas, aber ich wusste natürlich nicht mehr was. Er grinste und sagte: „Jura. Erstes juristisches Staatsexamen. Zwei Drittel fallen durch.“

      „Oh, ja“, sagte ich, „klar, das weiß ich doch noch.“

      Er sah mich zweifelnd an.

      „Nein, ehrlich gesagt, weiß ich es nicht mehr.“ Wir lachten beide. Ich erinnerte mich jetzt, dass seine nette Art mich schon in der Bar angesprochen hatte.

      „Ich hab zwischendurch mal angerufen. Kurz nach Weihnachten, aber da warst du wohl nicht zu Hause“, sagte er.

      Nein, dachte ich, da war ich nicht zu Hause, da bin ich vor Finn geflüchtet.

      „Später hat mich dann der Mut verlassen, ehrlich gesagt“, sagte er mit einem sympathischen Anflug von Verlegenheit, an dem nichts gespielt war.

      „Aber ich bin doch nicht so furchterregend, oder?“, fragte ich lachend.

      „Nein“, erwiderte er, „aber ich bin normalerweise niemand, der Leute in Bars aufreißt. Also war das ziemlich ungewohnt für mich, so spontan, Nummern zu tauschen, und alles.“

      Jürgen war eindeutig sympathisch.

      „Also, wenn du Lust hast, könnten wir ja mal was trinken gehen“, sagte ich.

      Sein Gesicht leuchtete geradezu auf.

      „Ja, natürlich. Gern. Ähm … hast du morgen Abend Zeit?“

      Ich ging im Kopf meinen überschaubaren Terminkalender durch.

      „Ja, morgen hab ich Zeit“, sagte ich.

      „Hast du einen Vorschlag?“, fragte er.

      „Bei mir um die Ecke sind ziemlich viele Kneipen. Vielleicht das Café Butter?“

      „Wo ist das denn?“, fragte er.

      „In der Buttermelcherstraße natürlich. Originell, was?“

      „Okay, dann im Butter“, stimmte er freudig zu.

      Wir verabredeten uns für sieben Uhr. Als ich mich von Jürgen verabschiedete und durch den Englischen Garten spazierte, war das Fiasko mit der Theaterwerkstatt bereits völlig vergessen.

      Am nächsten Tag war ich pünktlich um fünf nach sieben im Butter. Jürgen war schon da. So gehörte sich das. Den ersten Pluspunkt hatte er sich damit schon mal erworben.

      Ich war lange nicht mehr in dieser Kneipe gewesen. Mit meiner besten Freundin Johanna, die nach wie vor in Australien weilte, war ich früher manchmal hierhergekommen, aber es schien sich seitdem einiges geändert zu haben. Die Tische waren irgendwie anders verteilt, die Musik, die im Hintergrund lief, war merkwürdig und die Bedienung war eine mürrische, gelb-blond gefärbte Tussi, die Kaugummi kaute und uns nicht ansah, als sie die Bestellung aufnahm. Ich nahm einen Salat, Jürgen eine Käseplatte und wir beide jeweils ein Weißbier. Es war, wie ich erwartet hatte: Der Käse war trocken und geschmacksneutral, es gab zu wenig Brot und der Salat suchte das Dressing vergebens.

      Ich machte die Blondine darauf aufmerksam. Die sagte kein Wort und kam ein paar Minuten später mit einem kleinen Kännchen mit Dressing zurück, das sie stumm und wiederum, ohne mich eines Blickes zu würdigen, auf den Tisch stellte.

      Na gut, man konnte nicht alles haben. Zumindest das Weißbier war kühl und schmeckte. Jürgen und ich unterhielten uns glänzend. Er hatte Ringe unter den Augen und sagte, dass er praktisch Tag und Nacht lernte, denn er wollte unbedingt zu jenem Drittel gehören, das die schwierige Juraprüfung schaffte, vor allem weil er, wie er meinte, ohnehin schon so spät dran war.

      „Erst bin ich beim Abi durchgefallen, dann musste ich Zivildienst machen und bis ich dann richtig mit dem Studium anfangen konnte, war ich schon fast vierundzwanzig“, erzählte er. „Ich kann nicht noch mehr Zeit verschwenden.“

      „Und Jura macht dir Spaß?“, fragte ich.

      „Ich wollte schon immer Richter werden“, sagte er. „Wenn mich als Kind jemand gefragt hat, was ich werden will, hab ich nie Feuerwehrmann oder Astronaut gesagt oder Müllkutscher, das war auch sehr beliebt, sondern immer Richter. Keine Ahnung warum.“

      „Das ist doch toll“, fand ich. „Es ist toll, wenn man genau weiß, was man will.“

      „Ist das bei dir nicht so?“, fragte er. „Du bist doch Schauspielerin. Das muss man doch auch wollen müssen, oder?“

      „Ja, klar“, sagte ich, obwohl ich genau wusste, dass es mit meiner Entschlossenheit und meinem Willen nicht wirklich weit her war.

      Jürgen erzählte viel über sich und ich hörte gerne zu, aber ich hatte meinerseits nicht das Bedürfnis, ähnlich viel von mir zu erzählen. Er fragte nach meiner Arbeit beim Synchron und schien ehrlich interessiert zu sein, aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er nicht wirklich viel mit dieser Welt anfangen konnte. Er redete über meinen Beruf wie über ein interessantes Hobby. Er selbst beschäftigte sich mit den wesentlichen Dingen im Leben, mit Umweltschutz und den Folgen der deutschen Einheit, mit den Entwicklungen in der Sowjetunion und mit dem Golfkrieg. Davon hatte ich keine Ahnung. Ich sah mir die Nachrichten an und war informiert, aber ich war in meinem ganzen Leben noch nie auf einer Demonstration gewesen, und ich musste zugeben, dass ich kein Vorbild beim Mülltrennen war. Ich war einer jener unpolitischen Menschen, die so mitliefen und sich wenig Gedanken machten oder zumindest nicht auf die Idee kamen, sich zu beteiligen. Ich ging wählen, immerhin. Ich schämte mich ein wenig und versuchte, es vor Jürgen zu verbergen. Er sollte mich nicht für ein Dummchen halten, denn das war ich schließlich nicht.

      Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass ich mir darüber Sorgen machen musste, dass Jürgen mich irgendwie falsch einschätzte oder ein schlechtes Bild von mir hatte. Wir lachten viel und es gab keinen einzigen Moment, in dem uns der Gesprächsstoff ausging. Wir tranken jeder noch ein weiteres Weißbier und später brachte er mich bis vor die Haustür.

      „Das war ein sehr netter Abend“, sagte ich. Er nickte und ich hatte das Gefühl, dass er sich gerade fragte, ob der Abend schon vorbei war.

      „Ruf mich an, wenn du mal wieder eine Auszeit vom Lernen brauchst“, sagte ich und meine Körpersprache gab ihm die Antwort auf seine unausgesprochene Frage.

      „Mach ich bestimmt“, sagte er. „Spätestens, wenn die Prüfung vorbei ist.“

      „Toi, toi, toi!“, sagte ich, hob die Hand zum Gruß und wandte mich zur Tür.

      „Tschau!“, sagte er.

      „Tschau!“, sagte ich und ging hinein.

      Im Treppenhaus blieb ich eine Weile stehen. Ich dachte an den Abend der Vernissage, als ich mich von Finn verabschiedet hatte. Wie anders war das gewesen. Wie anders hatte ich mich da gefühlt. Viel unsicherer, viel befangener, aber auch viel verbundener. Dieses merkwürdige und gleichzeitig vertraute Gefühl, das mir Finn gegeben hatte und das ich niemals einordnen konnte, gab Jürgen mir in keiner Weise. Aber war das schlecht? Jürgen mochte mich, das war klar, und hätte ich ihn noch eingeladen, war es ebenso klar, wo es geendet hätte. Mit Finn dagegen wäre ich niemals im Bett gelandet, wir hätten einfach nur geredet, unwichtiges Zeug, wichtiges Zeug, Blödsinn, hätten uns übers Saxophon spielen unterhalten und darüber, wie er David kennengelernt hatte. Wir hätten Zeit gehabt für diese lange Geschichte. Und wenn ich heute mit Finn zusammen ausgegangen wäre, hätte ich ihm mit Sicherheit von der Theaterwerkstatt und dem Zausel mit seinen Ideen erzählt, von der Polonius-Darstellerin, die mich Miststück genannt hatte, und von dem gestrichenen Sein-oder-Nicht-Sein-Monolog. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie Finn sich darüber kaputtgelacht hätte.

      Aber Finn war in New York und