In all den Jahren. Barbara Leciejewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara Leciejewski
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783862823727
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liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis wir unser Haus erreichten.

      „Übrigens, danke für die Rettung neulich“, sagte Finn und hatte wieder sein Grinsen im Gesicht.

      „Was?“, fragte ich entgeistert. Welche Rettung meinte er?

      „Frau Obermoser“, sagte er. Ach so, das. Ich lachte erleichtert.

      „Keine Ursache“, sagte ich, während ich die Haustür aufsperrte.

      „Du spielst toll“, fügte ich danach leise hinzu, weil wir im Haus waren. „Saxophon, meine ich.“

      „Danke“, sagte er lächelnd. Wir gingen so langsam die Treppe hoch, als wollten wir unseren Spaziergang noch ein wenig ausdehnen.

      „The Rose ist zufällig mein Lieblingslied“, sagte ich und hätte mich ohrfeigen können. Wieder einmal. Warum sagte ich so etwas Überflüssiges? Wen interessierte das? Doch er blieb verdutzt stehen.

      „Wirklich?“, staunte er. „Meins auch.“

      Ich blieb ebenfalls stehen. „Echt?“

      Überwältigt strahlte ich ihn an. Er strahlte zurück. Irgendwo über uns knarrte eine Tür. Das Licht im Flur ging aus und der nächste Lichtschalter befand sich erst im Stockwerk über uns. Wir standen im Dunkeln auf der Treppe. Als wir gleichzeitig nach dem Geländer tasteten, berührten sich unsere Hände. Ich zuckte zurück und schwankte.

      „Vorsicht!“, sagte er und stützte meinen Rücken.

      Wir tasteten uns nach oben, drückten den Lichtschalter und sahen, dass wir im vierten Stock waren. Die Tür von Frau Obermosers Wohnung schloss sich knarrend. Wir gingen daran vorbei, als hätten wir nichts bemerkt, doch als wir außer Reichweite ihres Spions waren, bogen wir uns vor unterdrücktem Lachen.

      „Ich glaube, sie hat keinen Fernseher“, flüsterte Finn.

      „Naa, a so a glump braucht’s need“, imitierte ich die alte Schreckschraube. Finn prustete heraus und hielt sich die Hand vor den Mund.

      „Jetzt spuider scho wider Trumbet“, setzte ich noch eins drauf. „Dös is eine Frech-heit!“ Finn setzte sich auf die Treppe und lachte stumme Tränen. Hätte ich nicht befürchten müssen, dass Frau Obermoser meine kleine Vorstellung unten mitbekam, ich hätte weitergemacht. Mein altes Talent, Leute nachzuahmen, war bei Finn auf fruchtbaren Boden gefallen. So jedoch hielt ich es für das Beste, wenn ich abwartete, bis er sich beruhigt hatte, und wir ohne weiteres Aufsehen nach oben gehen konnten.

      Als wir vor unseren Türen standen, jeder vor seiner, lächelten wir uns verlegen an. Es war seltsam, sich jetzt zu verabschieden und dann doch nur ein paar Meter voneinander entfernt zu sein, nur getrennt durch eine Wand. Doch was hätten wir sagen sollen? Wollen wir noch etwas trinken? Bei dir oder bei mir? Da hätte ich ihm ja gleich das Kondom überreichen können. Denn egal, was wir gesagt hätten, hätte es immer genau danach geklungen. Das wollte ich nicht. Aber ich wollte auch nicht Gute Nacht sagen. Ich wollte nicht aufhören, bei ihm zu sein. Und das Schlimmste war, dass er mich ansah, als gingen ihm genau die gleichen Gedanken durch den Kopf. Plötzlich fiel mir seine Jacke ein, die noch immer auf meinen Schultern lag. Ich nahm sie ab und hielt sie ihm hin.

      „Danke!“

      „Gern!“

      „Also dann …“

      „Ja, dann …“

      Ich schloss meine Tür auf, er seine. Ein letzter Blick.

      „Gute Nacht!“

      „Gute Nacht …“

      Ich zog die Tür hinter mir zu und hörte, wie seine ins Schloss fiel.

      Er schien sich danach in Luft aufgelöst zu haben. Ich traf ihn nicht mehr. Ich hoffte, dass er mal an meiner Tür klingeln würde, einfach so, aber das tat er nicht und weil ich natürlich auch nicht bei ihm klingelte, sahen wir uns nie. Über einen Monat. Erst als Deutschland schon Weltmeister geworden war und Mitte Juli eine Hitzewelle über das Land schwabbte, klingelte es dann doch an meiner Tür und es war Finn. Neben ihm stand ein großer Koffer und eine kleine Reisetasche.

      „Hey!“, sagte er.

      „Hey!“, sagte ich. Mein Blick wanderte über das Gepäck.

      „Ich wollte nur Tschüss sagen“, sagte er. Ich nahm an, dass er in Urlaub fuhr, doch das stimmte nicht so ganz.

      „Ich geh für eine Weile nach New York, an die School of Visual Arts.“

      „Wie lange?“, entschlüpfte es mir unwillkürlich. Er sah mich an, als müsste er erst darüber nachdenken. Dann zuckte er schließlich mit den Schultern und sagte: „Mal sehen.“

      „Dann … eine gute Zeit“, sagte ich und ließ es möglichst unbeteiligt klingen.

      „Danke“, sagte er. „Dir auch.“

      Wo, dachte ich, hier? Klar, werde ich eine gute Zeit haben. Ich hab doch immer eine gute Zeit. Ich lehnte mich an den Türrahmen und kämpfte gegen meine aufkeimende Wut an, von der ich nicht einmal die Ursache kannte.

      „Ich hab noch eine Frage“, sagte er.

      „Ja?“ Ich hörte selber, wie abweisend ich klang.

      „Ich hab da ein paar Pflanzen in der Wohnung“, fing er an. „Aber ich kann auch meinen Bruder fragen, der wohnt ja nicht weit weg“, meinte er dann.

      Ich sollte seine Pflanzen gießen, während er fort war?

      „Nein, ist schon okay“, sagte ich irgendwie fremdgesteuert. „Ich hab zwar einen braunen Daumen, aber ich kann mir Mühe geben.“ Er lachte. Ich lachte.

      „Ich hab aufgeräumt“, sagte er, „aber weil ja alles relativ ist, kriegst du vielleicht doch einen Schock.“

      „Ich krieg keinen Schock“, versicherte ich ihm.

      „Okay. Der Kühlschrank ist leer, da kann also nichts weglaufen, und schmutzige Wäsche gibt’s auch keine mehr“, meinte er.

      „Das ist schon mal ein Plus“, sagte ich.

      „Also dann.“ Diesmal war es sein Text. Er reichte mir den Schlüssel. Seine Fingerspitzen berührten mich dabei und ich fragte mich, ob es angemessen war, ihm die Hand zum Abschied zu reichen. Eine Umarmung kam wohl nicht infrage. Ich nahm den Schlüssel und trat einen Schritt zurück.

      „Mach’s gut“, sagte ich.

      „Du auch“, sagte er. Eine Sekunde lang blieb er unschlüssig stehen, doch dann nahm er sein Gepäck, lächelte mir noch einmal zu und lief die Treppe hinunter.

      Als ich die Tür schloss, fragte ich mich, warum mir die Tränen in die Augen schossen.

      Der Sommer mit seiner drückenden Hitze ging vorbei. Ich goss täglich Finns Pflanzen und nahm mir vor, nicht eine einzige von ihnen sterben zu lassen. Ein großer Farn hatte mir dabei den Kampf angesagt. Er schien seinen Besitzer zu vermissen und litt unter Depressionen. Traurig hingen seine Blätter herab und verweigerten die Nahrung, da begann ich, mit ihm zu reden. Das mochte er und wir wurden doch noch Freunde.

      Als ich Finns Wohnung zum ersten Mal betreten hatte, hätte mich fast der Schlag getroffen. Nicht weil sie so unordentlich gewesen wäre – das war sie nicht, nur etwas chaotisch –, sondern weil sie ungefähr dreimal so groß war wie meine eigene.

      Das größte Zimmer war eine Mischung aus Wohnzimmer und Atelier und endete in einer Dachterrasse. Es war sehr hell und die Zimmerdecke ragte hoch bis unters Dach. Große Stützpfeiler in der Mitte ließen vermuten, dass es früher einmal in zwei Zimmer aufgeteilt und dann umgebaut worden war. Neben einer Staffelei und einem großen Zeichentisch, zwei tiefen Schränken, mehreren Kisten und Regalen mit allen möglichen Mal- und Zeichenutensilien befanden sich ein paar Bücherregale, ein altes Sofa, ein uriger, grober Holztisch, ein großer Ohrensessel und ein Klavier in dem Zimmer. Daneben standen und lagen überall irgendwelche Kleinigkeiten herum. Und natürlich