In all den Jahren. Barbara Leciejewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara Leciejewski
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783862823727
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so einfach war das nicht. Ich konnte nicht verhindern, dass mich Finns Bilder anzogen und dass sie mir von ihm erzählten. Davon, was für ein guter Beobachter er war und wie leidenschaftlich er Gefühle ausdrücken konnte. Auch von seinem Humor und seiner Freundlichkeit. Im Schlafzimmer, wo mein Freund der Farn stand, entdeckte ich nicht nur das Saxophon, sondern über dem Bett auch das Bild von der Ausstellung, das mir so gefallen hatte, die Zeichnung der beiden Verliebten am Meer. Das hatte also niemand gewollt. Sahen die Leute nicht, was ich sah? Für mich war das Bild vollkommen.

      Doch ich hielt mich an die Abmachung, die ich mit mir getroffen hatte. Ich konnte nicht vermeiden, das Offenkundige zu registrieren, schließlich konnte ich schlecht mit verbundenen Augen in der Wohnung herumlaufen, doch ich hütete mich davor, genauer hinzusehen, was in den Bücherregalen stand, ganz zu schweigen davon, dass ich jemals in irgendwelche Schränke geschaut hätte. Schon nach kurzer Zeit wurde es eine tägliche Routine, in Finns Wohnung zu gehen, seine Pflanzen zu gießen und den Rest nicht weiter zu beachten. Ich lüftete ab und zu und als es November wurde, machte ich auch manchmal die Heizung an, damit die Wohnung nicht auskühlte.

      November. Und von Finn war nichts zu hören. Ich hatte heimlich mit zwei Monaten gerechnet. Im Oktober dachte ich fast täglich: Jetzt müsste er doch allmählich wieder zurückkommen. Doch dann gewöhnte ich mich daran. Es war ja auch nicht weiter von Bedeutung. Wie gut kannte ich ihn denn schon? Wie oft hatten wir miteinander gesprochen? Kaum eigentlich, bis auf diesen einen Abend.

      Mein Leben plätscherte dahin wie gehabt. Beim Synchron schien dieser eine Film die große Ausnahme für mich gewesen zu sein, denn es hatte sich nichts Vergleichbares mehr ergeben. Auch David hatte ich nicht mehr getroffen. So war das eben in diesem Beruf, man traf sich bei einer gemeinsamen Arbeit, verstand sich blendend und dann traf man sich eben nicht mehr und das war auch in Ordnung. Aus den Augen, aus dem Sinn. Mit meinen diversen oberflächlichen Bekannten traf ich mich ab und zu, aber meistens wollte ich nur zu Hause sein. Je kälter es wurde, desto mehr wollte ich mich verkriechen. Eines Tages kam ich auf die Idee, mein Versprechen wahrzumachen und Edda Goldstein zu besuchen. Wahrscheinlich erinnerte sie sich gar nicht mehr an mich, dachte ich, aber mir war danach. Es war leicht, ihre Telefonnummer ausfindig zu machen. Als ich sie anrief und schon ansetzte zu erklären, wer ich war, unterbrach mich ihre freudige Stimme sofort. Natürlich erinnere sie sich an mich und wie schön, dass ich mich meldete. Sie lud mich noch für den gleichen Nachmittag zum Tee ein und ich ging hin. Es war ein angenehmer, hochinteressanter Nachmittag mit dem besten Früchtetee, den ich je getrunken hatte, köstlichen Plätzchen vom Konditor und einer neuen Variante der Lebensgeschichte, in der Max Goldstein sich monatelang in der Villa ihrer Eltern versteckt gehalten hatte, bis ihn eine Nachbarin denunzierte. Sie selbst und ihre Eltern wurden danach verhaftet. So Edda Goldstein.

      Daneben erzählte sie von berühmten Schauspielern, die sie kennengelernt hatte, von Musikern, Theaterleuten, Künstlern und auch Politikern. Falls auch nur ein Teil davon erfunden war, hatte sie eine Fantasie, die ihresgleichen suchte. Edda liebte es, von ihrem Leben zu erzählen. Allerdings sparte sie das wirklich Persönliche dabei aus. Ich fragte sie, ob sie nach dem Krieg noch einmal geheiratet habe. Sie lächelte wehmütig. Ja, sagte sie, das habe sie, aber es habe nicht gehalten.

      „Es war kein Max“, sagte sie wörtlich. „Die wahre Liebe lässt sich nicht wiederholen. Die gibt es nur einmal.“ Dann wechselte sie wieder das Thema. Es war schon dunkel, als ich ihr Haus verließ, und ich musste versprechen, bald wiederzukommen.

      Ich dachte lange über Edda nach und darüber, was sie gesagt hatte, den einen Satz über die wahre Liebe. Und wieder kam mir mein Leben so belanglos vor.

      Was würde ich einst zu erzählen haben? Nicht einmal eine wahre Liebe konnte ich vorweisen, nur zwei Exfreunde, von denen keiner dafür das Zeug gehabt hatte, und einen One-Night-Stand, an dessen Namen ich mich nicht einmal mehr erinnern konnte. Ich kannte niemanden, ich erlebte nichts, ich war langweilig und für Finn nur gut genug, um seine verdammten Pflanzen zu gießen.

      Auf meinem Anrufbeantworter zu Hause war eine Nachricht von Beate, der Aufnahmeleiterin aus dem Synchronstudio: Ob ich nächste Woche Zeit für zwei Ensembletage hätte.

      „Leck mich am Arsch!“, schrie ich das Gerät an und warf meine Jacke danach. Dann nahm ich den Hörer ab und sprach meinerseits auf ihren Anrufbeantworter.

      „Hallo Beate, hier ist Elsa Frank, ich wollte nur schnell sagen: Das geht klar mit den Terminen. Bis dann.“

      Ich legte auf und brach in Tränen aus.

      Es kam die Zeit der Weihnachtsmärkte. In der Woche vor Heiligabend bekam ich Besuch von einer alten Freundin aus meiner Heimatstadt. Silke und ich kannten uns schon seit der Grundschule. Wir hatten eine fantastische Zeit. Wir tranken uns von Glühweinstand zu Glühweinstand, aßen so viele gebrannte Mandeln, dass sich unsere Zahnärzte freuen durften, und kauften traumhaften Weihnachtskitsch. Wir schwelgten in alten Zeiten und tratschten über alle Leute, die wir so kannten. Zum ersten Mal seit langem hatte ich richtig Spaß. Mein Kopf war frei und ich fühlte mich nicht wie ein überflüssiges Insekt auf diesem Planeten. Freitag, einen Tag bevor sie wieder wegfuhr, gingen wir noch ein paar Cocktails trinken und dabei flirtete ich sogar völlig ungezwungen mit einem Typen am Nebentisch. Wo gab es denn so was? Als wir gehen wollten, fragte er mich, ob er mich mal anrufen könne. Ich gab ihm meine Nummer und er gab mir auch gleich seine eigene. Nur zur Sicherheit. Dabei zwinkerte er. Aber nicht auf diese schmierige Art, sondern nett. Eigentlich war alles ganz einfach, wenn ich mich ausnahmsweise einmal locker machte.

      Silke behauptete, dass der Typ – Jürgen hieß er – mich am liebsten gleich vernascht hätte. Ich widersprach heftig, aber geschmeichelt. Es war nicht weit bis zu ihrem Hotel und weil es ihr letzter Abend war, setzten wir uns noch in die Hotelbar und kippten mehrere Gläser Wein. Gegen zwei Uhr morgens bestellte mir der Nachtportier ein Taxi, das mich nach Hause brachte. Zugegebenermaßen wusste ich später nicht mehr viel von dieser Taxifahrt. Ich wusste nicht einmal, ob ich den Fahrer bezahlt hatte – musste wohl so gewesen sein – oder wie ich in meine Wohnung gekommen war. Ich war sturzbetrunken und noch in der Nacht begann sich das Bett, in atemberaubender Geschwindigkeit zu drehen. Am nächsten Morgen wollte ich sterben. Mein Kopf und mein Magen hatten ohnehin beschlossen, mich umzubringen. Irgendjemand, der mit einem Vorschlaghammer und mehreren spitzen und scharfen Gegenständen bewaffnet war, saß in meinem Gehirn und folterte mich, sein Kumpel hatte die Zerstörung meines Magens übernommen. Ich kroch auf allen Vieren aus dem Bett und schlug mein Lager vor der Toilette auf. Konnte man noch tiefer sinken? Ich schwor mir, in meinem ganzen Leben keinen Alkohol mehr zu trinken. Im selben Moment, als ich das Wort ‚Alkohol’ auch nur dachte, ging es wieder los. Mein Körper war eigentlich bereits komplett entleert, doch anscheinend wollte er nicht ruhen, bevor er nicht auch noch sämtliche Organe aus mir herausbefördert hatte. Dass ich das nicht überleben würde, war klar. Man würde mich nach Tagen finden: eine verschwitzte, verklebte, übelriechende Leiche.

      Es läutete an der Tür.

      Ich schwankte zwischen zwei Gedanken: Ich kann jetzt auf keinen Fall aufmachen, und: Das könnte meine Rettung sein. Der letzte Gedanke war stärker, denn ich vermutete, dass Silke noch einmal vorbeigekommen war, um nach mir zu sehen.

      Ich stand vorsichtig auf, hielt mir dabei den Kopf, der bei dieser Höhenveränderung umso stärker hämmerte, tastete mich zur Tür und öffnete.

      „Hey!“, sagte Finn.

      Jetzt wollte ich wirklich sterben.

      Ich hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie ich aussah, aber die genügte, um den Entschluss zu fassen, nach diesem Tag auszuwandern, weil ich ihm nie, nie mehr begegnen wollte. Es war der allerpeinlichste, schlimmste Moment in meinem ganzen Leben. Ich hätte zu gern die Tür zugeschlagen und meinen Schädel gegen die nächste Wand geknallt, weil ich zu blöd war, nicht zuerst durch den Spion zu schauen.

      „Was ist denn mit dir passiert?“, fragte Finn besorgt. „Bist du krank? Kann ich dir helfen?“

      Ich fühlte, wie es mir wieder hochkam. Es war eh schon egal. Die Klotür war genau neben dem Eingang und ich machte einen Hechtsprung hindurch, um nicht auch noch Finns Kleider mit Galle vollzuspucken.

      Speichel