Dass Tassilo nicht gleich zurückkehrte, bestätigte ihre Befürchtung, dass etwas Ernstes passiert war. Ihr Blick streifte kurz ihren Sohn, Theodoso, der zwei Plätze neben ihr mit leicht vorgeneigtem Kopf und angestrengter Miene ein Gespräch mit einem der Bischöfe bestritt. Der Sechzehnjährige hatte denselben Wulst über den Augen wie der Vater, doch das überflaumte Kinn sah aus wie abgeschnitten. Es lechzte geradezu nach einem kräftigen Bart, der ihm eine männlichere Form geben würde.
Es war das fliehende Kinn von Leutbergas Mutter, das auf den Jungen gekommen war. Das Kinn, das sie täglich an das Schicksal der Langobardenkönigin erinnerte, die von Karl gut ein Dutzend Jahre zuvor entthront worden war. Die getrennt von ihrem Mann als Gefangene über die Alpen geführt worden und in einem Klostergefängnis verschwunden war, während Karl den Königspalast in Pavia entweiht und dessen Kostbarkeiten an seine Kriegsleute verschenkt hatte! Von billigen Versprechungen des Königs hingehalten, hatte Tassilo damals stillgehalten. Leutberga spürte den Schmerz darüber wie einen schlecht verheilten Knochenbruch: Sie hatte Tassilo seine Untätigkeit niemals wirklich verziehen. Wie auch?
Beunruhigt wandte sie den Kopf nach dem Eingang des Palas. Der Herzog blieb verschwunden. »Semper adhaeret suorum consuetudinem …« Der Bischof von Salzburg sprach Latein mit Theodoso, was dessen krampfigen Gesichtsausdruck erklärte. Leutbergas Hand berührte ein seidenes Beutelchen am Gürtel, in dem ein juwelenbesetzter Goldring steckte. Drei Jahre zuvor hatte eine Äbtissin und aus Bayern stammende Karlsdienerin dieses Lebenszeichen der Mutter aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt. Wenn es denn ein Lebenszeichen war!
»Erzählt ihm von der Größe des Reiches meiner Eltern, Virgil«, warf sie dem Bischof hin. »Ich lasse Euch allein.« Der Kirchenfürst nickte, nicht ohne eine Braue hochzuziehen, denn dieser gewisse Unterton Leutbergas schien vor allem für ihn reserviert. Doch dann nahm sein hartes Gesicht mit der Adlernase wieder einen milderen Ausdruck an und er zitierte, einem Schulmeister gleich, den dritten Artikel der Gesetze der Bayern, damit der Junge ihn ins Volkssprachliche übersetzen konnte.
Leutberga stand auf und lief ohne weitere Worte auf die großen Torflügel des Palas zu. Prompt bemerkte Bischof Virgil, wie die anderen Gäste die Köpfe drehten. Tuscheln setzte ein.
Theodoso sah den Bischof erstaunt an. »Darf ich Euch etwas fragen, Euer Gnaden?«, sagte der Bursche dann mit einer Stimme, die etwas gequetscht klang. Virgil lächelte. »Gewiss doch, Herr Theodoso.«
»Stimmt es, dass Ihr Euren Bischofssitz nur der Fürsprache König Karls verdankt? Die Zofen meiner Mutter sagen das …« Virgils Miene veränderte sich nicht, aber seine Augen nahmen einen kalten Glanz an. »Und wäre das denn schlimm, junger Herr? Diene ich nicht der Ehre Gottes, des Allerhöchsten?«
Theodoso kniff kurz die Augen zusammen, als müsste er die Antwort abwägen. »Meine Mutter sagt, Euer Gnaden, dass man nicht beiden dienen kann: dem Allmächtigen und dem Frankenkönig. Weil er ein Bruder Satans ist … Verzeiht, hätte ich das nicht sagen sollen?«
* * *
In der Thronhalle sah sie Adalung, bewacht von mehreren Bewaffneten, unter dem Astdurchbruch mit einem Krug und einem Laib Brot. Rechts, am anderen Ende der Halle, saß Tassilo in einer Wandnische im Zwiegespräch mit Uto. Gleichzeitig warf der Herzog dem Hund Happen hin, die dieser mit schnellen Kopfbewegungen aufschnappte. Als Leutberga näherkam, sprang der Hund auf.
»Ist es geschehen, Herr?«, fragte sie ohne Umschweife. »Hat Hardrad gegen Karl rebelliert?«
Der Herzog sah auf. »Die Haut haben sie ihm geritzt, mehr nicht«, grollte er. »Beim Hoftag, vor aller Augen!« Seine Augen waren blutunterlaufen, die Tränensäcke größer geworden, Folge des ewigen Weins und einer Geißel namens Schlaflosigkeit. »Adalung sagt, er ist Karls Kriegern entkommen«, stieß Tassilo aus. »Aber wenn sie noch hinter ihm her sind, klopfen sie bald ans Tor.«
Sie zwang den Hund zur Seite und legte Tassilo eine Hand auf die Schulter. Ihren schnellen Seitenblick auf Uto konnte der Herzog nicht wahrnehmen. »Dann geschieht jetzt, was geschehen soll, Herr. Ihr wart nicht in Worms, als einziger der Großen. Karl wird beides miteinander in Verbindung bringen. Er kann gar nicht anders, dieser Wolf !«
»Aber wir sind nicht bereit, Weib!« Er sah zu ihr auf und sie merkte, wie er das Diadem auf ihrer Stirn musterte, als verberge es eine Botschaft. Vom unteren Rand des goldenen Reifs fiel ein schmaler Vorhang mit Goldfäden bis zu den Augenbrauen. »Hardrad sollte vor dem ersten Schnee losschlagen, wenn die Franken keine Reiterarmee mehr ins Feld führen können«, sagte Tassilo grimmig. »Jetzt muss sich der Narr verschanzen und wir müssen unsere Vasallen erst zusammenrufen.«
Leutbergas linke Hand griff nach dem Rosenkranz aus Bernsteinperlen, der hinter ihrem Gürtel klemmte. Sie gab ihrer Stimme die ganze Festigkeit, zu der sie fähig war. »Umso mehr Zeit, Herr, haben wir für die Einberufung einer Synode! Wir führen Karlmanns Sohn den Bischöfen und Edlen vor. Wir lassen sie erkennen, dass ihr Carolus Rex nur ein gewöhnlicher Mörder ist, der seinen Bruder hat umbringen lassen. Wer wird ihm dann noch folgen? Er wird am Ende von seinem Thron stürzen, ohne dass wir mehr als einen kleinen Stoß gegeben haben!«
Tassilo machte einen Grunzlaut und nickte, als wollte er daran glauben. »Karlmanns Sohn sieht Karl sogar ähnlich … der Neffe dem Onkel, das sollte helfen.« Sie sah die Zuversicht in seine Züge zurückkehren. Er stand auf, geschwinder und agiler, als man es hätte vermuten können. Sein Kuss kam unbeholfen, grob, der Bart kratzte über ihr Kinn – sie waren fast gleichgroß. »Ihr seid Euch sehr sicher, Königstochter«, sagte er langsam, in ihre Augen blickend. »Eure Eltern waren sich auch einmal sicher, als sie sich mit Karl einließen.«
»Sie ließen ihn angreifen«, antwortete sie mit belegter Stimme. »Das war ihr Fehler. Wir aber kommen ihm zuvor!«
* * *
Als die Herzogin wieder in den Hof zurückkehrte, blieb Tassilo noch einen Augenblick zurück. Uto, der mit respektvollem Abstand auf dem Gang gewartet hatte, fing den Blick seines Herrn auf. »Was soll mit Adalung geschehen, Herr?«
Der Herzog starrte ihn an. »Mit dem Bart seht Ihr wie ein Aware aus, wisst Ihr das?« Utos Augen wurden schmal, er presste die Lippen zusammen. Tassilo stellte befriedigt fest, dass seine Worte getroffen hatten. Die Barttracht Utos war ihm gleichgültig, doch er mochte es nicht, wenn ein unehelicher Sohn, Ergebnis einer hitzigen Nacht, sich wie ein Thronfolger aufspielte.
Mühsam räusperte sich der Jüngere, und seine Hände fummelten am Waffengürtel herum. »Herr? Was wollt Ihr mit ihm machen?«
Tassilo sah auf den Hund hinab. »Adalung kann uns nur noch schaden, nicht wahr, Wolfbiz?« Das Tier hörte etwas in der Stimme seines Herrn und richtete sich knurrend an Tassilo auf. Grinsend stieß ihm Tassilo den linken Unterarm zwischen die Kiefer. Der Arm war an dieser Stelle durch eine dicke Lederschicht geschützt. »Gebt Adalung einen kalten Ausgang!«
»Ja, Herr«, antwortete Uto ohne zu zögern. Selbstsicherheit war in seine Miene zurückgekehrt. »Darf ich Wolfbiz mitnehmen?«
Tassilo nickte huldvoll. »Reinigt ihn danach, hört Ihr? Ich will kein blutiges Vieh in meiner Halle herumlaufen sehen!«
2 Für die historisch Interessierten: In der Lex Baiuvariorum, den im 7. Jahrhundert niedergelegten Gesetzen der Bayern also, sind die sechs ältesten bzw. mächtigsten Familien namentlich aufgeführt.
3 Byzanz, der Nachfolgestaat Ost-Roms, gehörte zum griechischen Kulturraum.
Kapitel V
Worms, Mai 787
Königliche Herolde verließen die Pfalz, unterwegs nach Süden, Westen und Norden. Der Thüringer Herzog Hardrad war ein Königsmörder und vogelfrei, verkündeten sie in den Dörfern und auf den Märkten. Seine Güter waren dem König verfallen. Ein reines Gewissen durfte nur haben, wer alsbald dem König den Treueeid leistete!
Während Karl insgeheim seine Berater das Vorgehen gegen den Bayernherzog ausarbeiten