»Das ist Graf Fago«, sagte sie, erleichtert, dies beantworten zu können. »Er hat den Angriff der Franken und Langobarden auf die Pässe in Tirol zurückgeschlagen, letztes Jahr.« Sie beschrieb seine Position an der Herzogstafel, und ihr Begleiter schien den massiven, grauhaarigen Mann mit dem sonnenverbrannten Gesicht zu studieren. Das scheppernde Lachen des Grafen war sogar über dem Lärm der anderen zu hören. Dann ertönte das Klirren von Metall auf Stein vom unteren Ende des Hofes. Ein Schaukampf war im Gange, bei dem ein athletischer Krieger mit zwei Schwertern drei Speerkämpfer auf Abstand hielt.
»Der Kerl in dunklem Leder mit den zwei Klingen – wer ist das?«
Sie räusperte sich. »›Sänger‹ nennt man ihn. Sein richtiger Name ist Uto, herzogliches Blut fließt in seinen Adern.«
»Ein Bastard, was?« Beeindruckt verfolgte der Fremde die Fechtkünste des Sängers, der einem der Gegner das Wams aufschlitzte. Ein Schmerzensschrei ertönte. Der Fremde schwieg eine Weile; dann: »Leutberga sieht aus wie eine Königin. Aber der Herzog … Jeder Feldherr in Byzanz trägt mehr Gold und Ornat als er!«
Gertrud zog es vor, zu schweigen. Tassilo war ein bullig wirkender Mann mit kurzem Hals, der selbst im Sitzen etwas Stiernackiges hatte; ein dünner Umhang hing über seine Schultern, als einziger Schmuck prangte die goldene Herzogskette auf seiner blauen Tunika. Die kräftigen Brauen wirkten fast wie ein durchgehender Strich, ein dunkler, drei Zoll langer Bart überwucherte das Kinn.
Seine Gattin neben ihm erstrahlte geradezu in heller Seide, die Schultern waren von einer Art goldenem Gewebe bedeckt und ein mit Brillanten geschmücktes Diadem zog die Blicke von Männern und Frauen an.
»Ihr habt am Kaiserhof in Byzanz gelebt, Herr«, sagte sie endlich. »Die Griechen3 neigen zum Prunken, nicht wahr?«
»Prunk? Ich nenne es Großzügigkeit. Sie haben meiner Mutter Kleider gegeben, mit denen sie ihren Rang zeigen konnte – eine Königin auf der Flucht.« Ein bitterer Unterton begleitete diese Worte.
Wieder überlegte sie, wie alt er sein konnte. Zwanzig, fünfundzwanzig? »Ist Eure Mutter in Byzanz zurückgeblieben, Herr?«
»Sie ist tot.« Sein Blick züchtigte sie. »Hat die Herzogin Euch das nicht erzählt? Ich dachte, Ihr seid ihre Kammerfrau?«
»Das bin ich, Herr«, sagte sie und beschloss, dass sie diesen Menschen niemals mögen würde. Trotzig schob sie nach, dass er auch ihr vertrauen könne.
»Seid nicht albern«, sagte er grob. »Ein Königssohn ohne Thron und Titel kann niemandem vertrauen!«
Sie spürte Blut in die Wangen steigen. »Und warum seid Ihr dann überhaupt hier, Herr?«
Er schob die Kapuze vom Kopf. Seidenglattes, fast schwarzes Haar kam zum Vorschein, das locker über die Ohren fiel. »Weil ich auf die Gerechtigkeit Gottes hoffe! Mir gebührt der Thron des Frankenreiches, mir gebührt alles, was dieser Mörder Carolus Rex angehäuft hat!«
Sie spürte etwas wie Angst, als diese Worte fielen. Doch die Ankunft von drei Reitern lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Der vorderste von ihnen, ein sehniger Mann im Kettenhemd, der den Schmutz eines längeren Ritts im Gesicht trug, sprang aus dem Sattel und näherte sich der Tafel des Herzogs als gehörte er hierher. Und doch wusste Gertrud, dass dem nicht so war, denn sie hatte ein Gedächtnis für Gesichter. Ein kurzer Wortwechsel des Hageren mit einigen Wachen zehn Schritt vor dem Baldachin folgte.
»Wer ist das?«, raunte der Mann aus Byzanz.
»Einer, Herr, der keine gute Nachricht bringt«, sagte sie nur.
* * *
Bewaffnete führten den Besucher steinerne Stufen hinauf, die zu einer Halle führten. Quer am Kopfende stand ein erhöhter, mit Elfenbein und dunklem Holz geschmückter Sitz mit hoher Rückenlehne, breit genug für zwei Menschen. Den oberen Abschluss der Lehne bildeten kräftig geschwungene goldene Doppelhörner, die wie der Kopfschmuck eines Steinbocks aussahen. Unterhalb des Throns füllte eine Tafel aus rohen Holzplanken die Mitte des Saals aus. Mächtige Feuerstellen mit rußgeschwärzten Steinquadern in den Wänden kündeten von kalten Wintern.
Zwei Diener schleppten ein Dreibein und eine Wasserschüssel herbei. Der Mann im Kettenpanzer klatschte sich Wasser ins Gesicht und wusch sich gründlich Hände und Unterarme.
»Was zum Teufel …?!«, stieß er beim Abtrocknen aus, als er den hölzernen Lindwurm bemerkte: Ein Ast so dick wie zwei Menschenleiber durchbrach die linke Wand in etwa zwölf Fuß Höhe, Querverästelungen und grünbraune Zweige füllten die Hälfte des Saalhimmels aus.
»Wir nennen diesen Ast Agilos Arm«, sagte Uto ohne Einleitung. Geräuschlos hatte er den Saal betreten, eine Hand lässig hinter den Gürtel gehakt. Der Fremde musterte ihn eher beiläufig. »Agilo, des Herzogs Urahn?«
Uto nickte, mit breitbeiniger Pose, eine Hand zwirbelte die Enden des langen Schnurrbarts. »Der Urgroßvater Tassilos, der Großvater seines Vaters Odilo. Solange dieser Baum wächst, gedeiht das Herzogtum, heißt es … Hat man Euch noch nie hier reingelassen?«
Die Dreistigkeit der Frage verunsicherte den Besucher. Schnell sah er sich in der Halle um. »Ihr habt einen forschen Ton, Mann«, knurrte er. »Nennt mir Euren Namen!«
»Uto«, sagte der andere mit derselben Herablassung wie zuvor. »Der Herzog ist mein Vater.«
In diesem Augenblick knarrten die Türflügel und der Bayernherzog Tassilo betrat den Thronsaal. Der Kopf auf dem kurzen Hals war ein wenig nach vorne geneigt, als würde der Herzog auf etwas vor seinen Füßen blicken. Tatsächlich trottete neben ihm ein dunkelbrauner Hund mit massiver Schulterpartie und kräftigem Gebiss, dessen Kopf mit kleineren und größeren Narben übersät war.
Tassilo rief den Dienern etwas zu und ließ sich ein paar Schritt neben dem Besucher auf einen Lehnstuhl vor einer Feuerstelle fallen. Er hob den Kopf und warf dem Gast einen kühlen Blick zu. Mit einer tiefen, befehlsgewohnten Stimme sagte er: »Es ist kühn von Euch, Adalung, hier unter den Augen aller reinzuplatzen.«
Der Angesprochene straffte sich. »Herzog …«, hob er an, doch Tassilo war noch nicht fertig: »Man könnte auch sagen: Es ist dumm!«
Adalung warf das Handtuch zu Boden und baute sich vor dem Herzog auf, mit Wangen, die rot anliefen. »Heil Eurem Herzogtum!«, stieß er aus. »Damals habt Ihr freundlicher zu uns gesprochen, als Ihr Waffenbrüder suchtet.«
Tassilo machte ein kehliges Geräusch, das den Hund ruckartig aufblicken ließ. Die ringbesetzte Rechte des Herzogs begann, den Hund an seiner Seite zu streicheln, ohne auch nur anzudeuten, dass Adalung sich setzen durfte. Dessen Hand ging plötzlich zum Schwertgriff. Fast geräuschlos kam die Klinge aus der Scheide. Ein scharfer Ruf hallte durch den Saal, dann war Uto schon neben dem Angreifer.
»Weg damit!«, zischte er, seine Klinge gegen Adalungs Hals gerichtet.
Doch trotz Utos Drohung senkte der Thüringer die Klinge nicht; braune Verfärbungen waren auf dem Stahl zu sehen. »Das ist das Blut König Karls, Herzog! Wäre Satan nicht auf seiner Seite … Wir haben es gewagt, beim Hoftag. Er entkam um Haaresbreite!«
»Beim Hoftag? Ihr Thüringer seid doch von Sinnen!«, schnaubte der Herzog, dann wurden seine Augen eng. »Werdet Ihr verfolgt?«
Nun erschien ein seltsam hochmütiger Ausdruck in Adalungs schmalem Gesicht. »Keine Angst, ich hab’ die Panzerreiter abgeschüttelt! Aber ich brauch’ neue Pferde und ein paar Kriegsknechte von Euch, die fechten können. – Himmel, habt Ihr nichts mehr zu trinken?«
Es war kein gutes Omen für Adalung, dass Uto nun das Wort an ihn richtete, in einer Art Murmelton. »Ihr Thüringer Helden … Mein Herr hat Euch Pferde gegeben und Silber, reichlich Silber, und jetzt kommt Ihr an und bettelt um mehr?«
* * *
Leutberga hatte die Ankunft Adalungs aus den Augenwinkeln verfolgt. Sie ahnte, was geschehen war. Sie war eine Frau mit Verständnis für den Lauf der Dinge. Gewiss, Politik galt als eine Sache der Männer. Aber sie war am Hof eines der