Nun endlich fiel es ihm ein. Aus seinen Taschen am Kopfende kramte er ein Stück Stoff hervor. Vorsichtig schlug er es auseinander. »Eine Fingerspitze vom Heiligen Kilian. Die beschützt dich vor allem und jedem, wenn ich auf die nächste Fahrt gehe.« Sie entzündete ein Öllicht und besah die Reliquie von allen Seiten. »Wie hast du …« Er legte einen Finger auf ihre Lippen. Ob er jemanden dafür getötet hatte? Er schüttelte den Kopf.
Sie ließ die Fingerkuppe in einem kleinen Beutel verschwinden, küsste ihn und drückte ihn auf das Bett nieder.
Später – es war dunkel, sie nahmen einander nur noch als Schemen wahr – lauschten sie auf die nächtlichen Geräusche des Hofes. Ein letztes Brüllen der Zugochsen, dann das kräftige Gebell der königlichen Meute, gefolgt von hellem Kläffen der Pfalzköter; Stille.
»Wir könnten Pferde züchten«, sagte er irgendwann. Seine Finger strichen um ihren Nabel. »Pferde für den Hof, für die Scara.«
»Wenn du dabei nicht dauernd zum Schwert greifen musst …«
»Die Wesergaue sind gutes Pferdeland«, brummte er. »Und Sigfrid und seine Leute verstehen sich auf Rösser – Sachsen eben!«
»Du sprichst mit einer Sächsin.« Ihre Finger ziepten an seinem Ohrläppchen. »Schon vergessen?«
»Nein. Aber du hast Kinder, die lesen und schreiben können und betest die Jungfrau Maria an«, lächelte er im Dunkeln. »Sächsinnen tun das nicht.«
Seine Finger waren jetzt südlich des Nabels unterwegs, im krausen Haar ihres Gärtchens. Sie machte ein Geräusch, wie ein kleines Schnappen nach Luft. Draußen, in der Ferne ertönte ein besoffener Fluch. »Hör nicht auf«, flüsterte sie. Er erreichte die Stelle. Erkundete die warme Feuchtigkeit. Spürte ihren Schauder, der seine eigene Erregung befeuerte. Dann schob er sich auf sie und ächzte, als sein Hals ihn an die Schwertspitze des Thüringers erinnerte.
* * *
In einer deutlich bequemer ausgestatteten Kammer unter dem Dach des Hauptgebäudes – dort schliefen normalerweise der Amtmann und seine Familie – klagte eine andere Frau über ihr Schicksal. »Ich habe Kopfschmerzen, ich leide, seit Tagen schon«, stieß die Königin mit halbgeschlossenen Augen auf einem Hügel von Kissen aus. »Und meine Kammerfrau? Vergnügt sich irgendwo mit ihrem Mann!« Fastrada drückte die durchgestreckten Finger gegen ihre Schläfen und schoss einen bösen Seitenblick auf den König ab, als obliege es ihm, die Betreuung seiner Gattin durch die Hofdamen zu überwachen.
Karl stand, das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagernd, neben ihrem Bett und strich sich gleichmütig über den Bart. Schließlich brummte er etwas und machte den beiden Zofen, die Arzneien in Glastiegeln aus einer Kiste hervorgeholt hatten, ein Zeichen. Geräuschlos verschwanden sie. »Dass Erika ihrem Mann zu Willen ist, ist nichts Schimpfliches«, sagte er langsam und setzte sich auf den Rand ihres Kissenbettes. »Ehefrauen sollten das bisweilen tun. Ihr auch.«
Fastrada öffnete die Augen. »Kommt Ihr deshalb zu mir? Ich habe Euch zwei Kinder geboren, wie es sich für ein Frankenweib gehört, und davon bin ich ganz unförmig geworden!«
»Das seid Ihr nicht, Fastrada.« Seine Handfläche berührte ihre Wange, obwohl er sie lieber geohrfeigt hätte. Irrsinnige Übertreibungen waren Teil ihrer Wesensart, wusste er. Das Üble war, dass sie oft mit List vorging und selbst ihn, den König, täuschen konnte, zumindest eine Zeit lang.
Als ahnte sie seine Gedanken, richtete sie sich auf einen Ellenbogen auf. »Einen lebenden, gesunden Sohn habe ich Euch geschenkt, wie es von einer Königin erwartet wird. Ich flehe zur Jungfrau Maria, dass er nicht so ein Tollpatsch wird wie Euer Hildegard-Sohn Ludwig. Der ist wie ein Esel, dem man die Beine zusammengebunden hat!«
»Hört auf damit, Weib!«, entfuhr es ihm. Nie erwähnte sie ihre Stiefkinder, ohne sie herabzuwürdigen. Und sie war noch nicht fertig. »Ist Euch klar, mein König, dass alle Eure Kinder diesen halbgaren Kriegersohn namens Arthur bewundern oder gar beneiden? Und ausgerechnet den behandelt Ihr wie einen Kriegshelden!«
Karl schüttelte entnervt den Kopf. »Ich schmeichle damit lediglich seinem Vater, liebes Weib – und den brauche ich noch!« Damit erhob Karl sich und murmelte, dass er in der Nachtmesse für ihre Gesundheit beten würde.
»Bleibt!«, rief sie und richtete sich in eine sitzende Stellung auf. »Tassilo – Ihr werdet ihn zerstören, nicht wahr?«
Der König lächelte freudlos. »Das hängt von ihm ab. Schwört er Heerfolge, darf er seinen Thron erstmal behalten. Aber seine Söhne werden wir als Geiseln an unseren Hof holen, sicher ist sicher.«
»Zur Hölle mit seiner Brut!«, entfuhr es Fastrada. »Ihr wollt das Herzogtum, Mann, also warum noch mit diesem Ochsen Tassilo herumplänkeln?« Schaudernd spürte Karl erstmals seit Längerem wieder das Raubtierhafte in seiner Frau – nur in vertraulichen Momenten kam es zum Vorschein.
»Wollt Ihr mir etwas sagen, Weib?«
»Ich will den Herzogsthron für meine Kinder!« Sie funkelte ihn an, doch dann schien sie sich selbst wahrzunehmen und die Lippen formten sich zu einem falschen Lächeln. »Auch sie müssen etwas erben können, wenn Ihr zum Allmächtigen auffahrt. Sonst werden Eure Hildegardsöhne und der bucklige Kerl aus Eurer ersten Ehe alles an sich reißen!«
Kapitel VII
Augsburg, Juni 787
Würde Tassilo tatsächlich auf dem Lechfeld erscheinen? Keine Frage wurde häufiger gestellt unter den reisenden Hofleuten. Die Augsburg selbst war Königsbesitz, der Lech bildete die Grenze zum Herzogtum. Der Augstgau, den die Königlichen durchquerten, war hingegen alemannischer Boden. Früher, vor Karls Geburt, waren auch die Alemannen noch Rebellen gewesen. Bis die Franken das rebellische Treiben irgendwann auf althergebrachte Weise beendet hatten: Die Edlen Alemanniens wurden nach Cannstatt geladen – und erschlagen.
Arnulf überquerte mit seinen Leuten ein breites Schotterfeld südlich der Burg. Auf den ebensten Stellen errichteten die Hundertschaften ihre Zelte. Der König, seine Familie und die Edlen nahmen in der Burg selbst Quartier. Auch Einhard konnte sich eine Kammer zusammen mit dem Kanzler in der aus Stein errichteten, zweistöckigen Kommandantur sichern, wie Arnulf feststellte. Eine Stunde vor Sonnenuntergang suchte er den alten Gefährten in seinem Quartier auf. Zuvor vergewisserte er sich, dass Erika und die Kinder eine anständige Unterkunft gefunden hatten. Der Kanzler saß zu dieser Zeit noch mit dem Hofkapellan zusammen, so hatten der Kriegsmann und der Gelehrte einen seltenen Moment der Privatheit, um sich über das Kommende auszutauschen. Obwohl sie manches gemeinsame Abenteuer miteinander verband, dauerte es immer eine Weile, bis ihr Gespräch zu fließen begann – zu unterschiedlich waren die Temperamente. Einhard bot ihm einen Becher mit sauberem Flusswasser an. Er selbst nippte an einem Töpfchen mit frischer Ziegenmilch. Sogar eine Schüssel Erdbeeren stand auf dem winzigen Tisch vor dem Fenster. Arnulf legte die Hände aufs Fensterbrett und sah hinaus. Dünne Rauchfahnen stiegen aus schindelgedeckten Holzbauten auf, von einer gemauerten Schmiede drang der scharfe Lärm von Hammerschlägen an sein Ohr. »Draußen am Fluss ist’s ruhiger«, grinste der Kriegsmann. Dann erst nahm er den schaurigen Geruch einer Färberei wahr, die irgendwo hinter der Schmiede liegen musste – der Wind stand schlecht!
»Gebt dem Sachsengrafen keinen Grund zum Streit«, sagte Einhard unvermittelt. Er hatte auf dem Stuhl am Tisch Platz genommen und schien Gehämmere und Gestank nicht wahrzunehmen.
»Ich bin froh, wenn er mich in Ruhe lässt«, gab Arnulf bedächtig zurück und betrachtete die tiefen Querlinien auf der Stirn des königlichen Ratgebers, die schmalen Wangen und die grauen Barthaare. Er ist alt geworden. Aber die Augen – blau? grau? – musterten Arnulf mit großer Konzentration. »Es bahnt sich etwas an, Hauptmann«, sagte Einhard eindringlich. »Dinge, die sonst festgefügt sind, geraten in Bewegung, wie Eisschollen auf einem Fluss im Frühjahr.«
Arnulf verschränkte die Hände vor der Brust. »Redet klarer, consiliarius! Ihr sprecht mit einem Krieger, nicht mit einem Hofmann.«
Aber Einhard ging