»Wer ist das Du, das dich umfängt, Bo?«
Er legte die Stirn in Falten. Es dauerte, bis er die Frage verstand, schließlich war es sechs Wochen her, dass Sofie ihm am Telefon erzählt hatte, sie habe aus dem kleinen Lied, das sie sich von ihm hatte schenken lassen, einen ziemlich komplexen Wechselgesang mit Trommelbegleitung gemacht, und zum Abschluss des Sommerfests habe der ganze Frauenkreis es noch einmal mit Inbrunst gesungen, es sei schon ins feste Repertoire eingegangen. Bo zuckte die Achseln. »Wer weiß«, sagte er. »Du warst mir nicht fern, als die Verse entstanden sind, aber wenn du Du bist, bist du mehr als du.«
Ein Lächeln ließ ihr Gesicht aufleuchten. Leise begann sie zu singen.
Du bist vor und hinter mir,
über mir und unter mir,
du umfängst mich ga-a-a-a-a-anz,
du umfängst mich ganz.
Sie wartete, als wollte sie das Lied nachhallen lassen, in sich, in ihm, dann stand sie auf. »Ich schau noch mal kurz nach den beiden«, sagte sie und ging ins Nebenzimmer, wo die Mädchen untergebracht waren. »Sie schlafen, endlich«, meldete sie, als sie in die Stube zurückkam. Da Bos Julibesuch in Kiel ausgefallen war, hatte Sofie beschlossen, auf dem Rückweg von Italien noch ein wenig seinen Junggesellenfrieden zu stören. Obwohl die Kinder nach der langen Fahrt hundemüde gewesen waren, hatte es ewig gedauert, bis sie in der fremden Umgebung und der aufgeladenen Atmosphäre zwischen den Erwachsenen zur Ruhe gekommen waren. Das alte Bauernhaus, in dem Bo wohnte, gefiel ihnen gut, wenn auch nicht ganz so gut wie das in den ligurischen Bergen, wo sie zwei Wochen mit der Mama und einer befreundeten Familie Ferien gemacht hatten, mit Meerblick und Pool im Garten.
Auch Bo hatte Fragen. »Warum hast du Gregor nie geheiratet?« Das ging ihm schon länger durch den Kopf, und jetzt sprach er es einfach aus.
Sofie seufzte. »Ich weiß es nicht so genau. Er hätte gewollt, aber so wichtig war es ihm auch wieder nicht. Mir war irgendwie immer klar, dass ich das nicht wollte. Wahrscheinlich war er einfach nicht mein Mann. Deshalb.«
Bo nickte. Die nächste Frage ließ er unausgesprochen.
Sofie setzte sich nicht. Ihr Gesicht war ernst. Als von ihm nicht mehr kam, trat sie hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Es gibt etwas, das ich dir sagen muss.«
»Ja«, sagte er, und im selben Moment wurde ihm klar, was er den ganzen Abend schon an ihr gesehen und nicht gesehen hatte. Er drehte sich halb herum und zog sie auf seinen Schoß.
»Ich bin schwanger.«
… Küsse, Bisse…
Die Ecke … kam ihr bekannt vor? Dahinter wurde es dunkel. Der lange Gang mit den kahlen Wänden? Der schwarze Schacht, die winklige Treppe …? Nein, fremd, alles fremd. Ein Huschen hinter der halb offenen Tür. Geräusch von der Straße. Wer …? Sie kannte die Tür, führte sie nicht …? Und wenn die Frau jetzt herauskam? Ihr Herz zog sich ängstlich zusammen. Weit weg, Gott sei Dank, die Stimme von draußen. Hörte auf, kehrte wieder. Jetzt näher. Warum stöhnte sie so? So unmenschlich rau. Wie nicht aus dem Mund. Wie ein leidendes Tier. Sie drehte sich um, als der Wind um die Ecke fuhr und den Vorhang bewegte. Oder die Wand? War da eine Gestalt? Als ob die Wand selber stöhnte. Das war doch ihr Haus! Die Angst wehte auf. Sie warf sich herum. Hörte sich schnaufen, noch schlafbenommen. Die Stimme kam gar nicht von draußen! Von unten kam sie, von unten! Mama! Es ging bei ihr los! Die Angst packte zu. Wie schrecklich sie klang! Wieder Stille. Sie lauschte. Das Stöhnen ging wohl schon länger, sie hatte es in den Traum eingebaut. Sie stemmte sich auf einen Ellbogen, lauschte. Stille. Dann ruhig eine Männerstimme, dann eine Frau. Jemand anders. Sie schaute auf ihren Wecker: »3: 24« leuchteten die Ziffern im Dunkeln. Sollte sie hinuntergehen? Ob Leni auch wach war?
Sie stand auf und schlich auf den beleuchteten Flur hinaus. Mamas Stimme war dort deutlicher zu hören, aber sie stöhnte nicht mehr, sie sagte etwas. Bo antwortete, er lachte. Mama lachte auch … oder weinte sie? Sie öffnete leise die Tür zu Lenis Zimmer, doch als sie die regelmäßigen Atemzüge hörte, knipste sie das Licht lieber nicht an. »Leni?«, hauchte sie. »Leni!« Keine Antwort. Sie zögerte, dann schloss sie die Tür wieder. Von Anke auch nichts zu hören. Nein, lieber nicht hinuntergehen. Allein. Und überhaupt. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück. Nach dem kalten Flur war das Bett kuschelig warm.
Dass sie dabei sein dürften, wenn sie gern wollten, hatte Mama ihnen versprochen, als sie in den Sommerferien noch drei Tage bei Bo in Süddeutschland gewesen waren. Anke würde sich gewiss um sie kümmern, die durften sie notfalls wecken, auch mitten in der Nacht, auch wenn sie am nächsten Tag in die Uni musste, auch wenn ihr Freund bei ihr schlief. Sie konnten es selbst entscheiden. Dann hatten Mama und Bo lange darüber geredet, ob er dabei sein wollte. Er wollte gern, wenn sie es wollte. Es war richtig süß zu sehen, wie sehr er sich auf das Kind freute, er guckte gar nicht so ernst wie sonst und war ganz nervös, stieß zweimal sein Glas um, kippte die Nudeln ins Waschbecken, der Brotkorb rutschte ihm vom Tablett, und er lachte die ganze Zeit. Er war total nett. Unten wurde es wieder laut, und diesmal erhob nicht nur Mama die Stimme, sondern Bo auch, nicht so wild wie sie, aber in einem festen Rhythmus, und nach einer Weile ging sie darauf ein, und beide schrien und stöhnten im selben Rhythmus. Das klang witzig und unheimlich zugleich. Die Augen fielen ihr zu. Als sie und Leni geboren wurden, hatte ihr Papa beide Male nicht mit dabei sein wollen; das hatte sie mitgehört, als Mama es Bo erzählte. Und Papa hatte von ihr verlangt, dass sie zur Geburt in ein Krankenhaus ging, obwohl sie lieber zuhause entbunden hätte. Diesmal konnte sie ihr Kind so zur Welt bringen, wie sie es wollte, Bo war einverstanden. Leni und sie freuten sich genauso wie er auf das Geschwisterchen, und Mama war sicher, dass es ein Junge wurde, obwohl sie es nicht auf dem Ultraschall hatte sehen wollen. Jakob sollte er heißen. Vielleicht war er ja schon da, wenn sie aufwachte, ihr kleiner Bruder …
Sie schlief nur flach, als sie den neuen Schrei hörte. Ganz klein und quäkig, und trotzdem war sie sofort hellwach. »6: 09«. Ronja sprang aus dem Bett.
Der ganze Raum pulste von Glück. Er fühlte das Herz seines Sohnes – seines Sohnes! – und mit der anderen Hand das Herz seiner Frau, und ihm war, als wollten sich trotz der verschiedenen Rhythmen die Schläge synchronisieren. Ein Herz. Sein Herz gab den Grundbass. In die heilige Stille hinein knarrte die Tür, und er sah die Mädchen auf der Schwelle zögern, die Augen weit aufgerissen. Er ging sie holen, schloss sie in die Arme. Sie schmiegten sich an ihn wie selbstverständlich. Bald streichelten sie behutsam das kleine rote Bündel Leben auf der Brust der Mutter, und sie flüsterten scheu mit ihr, so fremd, so vertraut. Er ließ seine Hände auf ihnen ruhen, auf allen vieren, die ihm jetzt anbefohlen waren, mal auf dieser, mal auf jenem, wie sie sich regten, und er war wie ein Dach, unter das sie sich bargen, ihre feste, schützende Burg. Er ließ das Gefühl in sich wachsen. Als die Mädchen unruhig wurden, reichte die Hebamme ihm die Schere, mit der er feierlich die Nabelschnur durchschnitt, dann half sie Sofie, den Kleinen anzulegen, und beim dritten Versuch klappte es und er trank. Bald waren Mutter und Sohn glücklich eingenickt, und er ging mit den Mädchen in die Küche, Frühstück für alle machen.
Erholsam, zur Abwechslung mit profanem Geschirr und Lebensmitteln zu hantieren, Abstand zu gewinnen von dem überwältigenden Geschehen im Nebenzimmer, sich zurückzuziehen auf das äußere Umfeld. Das war die ganze Zeit schon seine Zuständigkeit, das Umfeld, die Rahmenbedingungen: Zimmer herrichten, Folie