Bo hört ihren Ton und schiebt sich in eine aufrechte Haltung.
»Mich hat das damals sehr beeindruckt«, fährt Sofie fort. »Ich war ja furchtbar umgetrieben von der Suche nach meiner eigenen Lebensaufgabe, und diese Perspektivverschiebung, nach der Aufgabe eines andern Menschen zu fragen, meines Kindes, kam wie eine Erleuchtung. Es ging um jemand anders und erforderte doch mein Handeln, ein ziemlich unvorstellbares Handeln zumal, ein Handeln, in dem es direkt ums Leben ging. Kein Tunals-ob. Als exotisches Eingeborenenmärchen hören wir solche Sachen ja gern, aber wie ernst kann man so was nehmen, wenn es einen selbst betrifft? Ein Dorfältester, den ich hätte machen lassen können, war nirgends in Sicht, wenn mir also ernst damit war, vor der Geburt mit meinem Kind in Kontakt zu treten, musste ich das selbst versuchen. Ich fing im stillen an, in meinen Bauch hineinzulauschen, auf Regungen zu achten, hinzuspüren, wer da kommen wollte, was für ein Wesen, was es gern mochte und was nicht so gern, wie es mit mir verbunden war.« Wieder zögert sie. Bo blickt unverändert gespannt. »Mit Gregor konnte ich nicht darüber reden. Er hätte das als irrationalen Humbug abgetan. Es war schon schwer genug, ihn davon zu überzeugen, dass es nicht unverantwortlich war, auf weitere Ultraschalluntersuchungen zu verzichten, weil ich …« Sie macht eine hilflose Handbewegung. »Ich wusste vorher gar nichts darüber, und dann zeigt mir der Frauenarzt beim ersten Mal dieses graue Geschmiere auf dem Bildschirm und erklärt mir stolz, was er alles darin erkennen kann: das ist die Stirn, und da die Nase, und da die linke Hand. Mir kam das völlig unwirklich vor. Ich hatte doch noch gar kein Gefühl für das Kind, das da kommen wollte, es war doch nur eine dunkle Hoffnung, eine gute Hoffnung tief in mir drin, die noch eine ganze Weile wachsen musste, um für mich wirklich zu werden, um die Ahnung meines Kindes zu werden, meines Kindes. Und auf einmal ist es schon aus mir draußen dort auf dem Bildschirm, und ich kann es angeblich sehen, und der Arzt kann mögliche Fehlbildungen feststellen und mich davor warnen und mir eventuell Gegenmaßnahmen vorschlagen, die aber selber höchst fraglich sind und die ich allein verantworten muss, und es hat alles überhaupt nichts mit mir zu tun, es ist nur ein technischer Trick, mit dem der Arzt so tut, als könnte er in mich hineinschauen, aber was er da auch sehen mag, das ist nicht mein Kind. Das ist eine technische Vorspiegelung. Das ist nicht mein Bauch, dieses schmierige graue Bild, er kann nur dieses glitschige Gel darauf schmieren, das mich davon ablenkt zu fühlen, was wirklich in meinem Bauch vorgeht.« Sie schüttelt den Kopf. »In dem Moment ist mir erst klar geworden, was es heißt zu sagen: Mein Bauch gehört mir.«
»Aber das Bild gibt doch wieder, was in deinem Bauch drin ist, es stellt doch nichts anderes dar«, wendet Bo ein. »Wieso meinst du, es hätte nichts mit dir zu tun?«
»Bo, was da geschieht, ist etwas … etwas Menschliches, nichts Technisches, nichts Biologisches. Ich erwarte doch kein biologisches Objekt, ich erwarte mein Kind. Das mich zur Mutter macht. Ich muss diese Mutter werden – das ist nichts Biologisches! Ich muss, wenn ich so weit bin, in Verbindung mit meinem Kind treten, das ich noch nicht kenne und das ich kennen lernen will, von ganzem Herzen, aber das ich niemals kennen lernen werde, wenn ich mir einbilde, es schon zu kennen, weil ich irgendwelche Messdaten darüber weiß, irgendwelche Prognosen. Weil ich es quasi schon im Fernsehen gesehen habe. Der Arzt tut, was alle Wissenschaftler tun, die Illusion eines objektiven Blicks erzeugen, und den perfektioniert er mit seinen Apparaten, aber das Auge allein reicht da nicht hin, es kann nicht ins Dunkel dringen, das kann nur das Ohr. Das Ohr ist das Organ fürs Unsichtbare, für die Gefühlswelt, und deshalb war ich so glücklich, als Marlène, diese Freundin, mir von dem Hörritual erzählte, denn das war genau die Richtung, in der ich meinem Kind näherkommen wollte.« Sie sieht Bo beinahe flehend an. »Verstehst du?«
»Vielleicht. Sprich weiter.«
»Es ist schwer, diese Verbindung zu beschreiben, die da mit der Zeit entsteht. In meinem Bauch hat sich plötzlich ein Lebensdrama abgespielt, neben dem der Abschluss an der Schauspielschule ein Klacks war. Ich dachte, ein Kind will die Bühne des Lebens betreten, was zählen dagegen alle Bühnen der Welt? Ich muss es auf diese Bühne führen, ihm sagen, was hier gespielt wird, es mit seiner Rolle vertraut machen. Dafür muss ich selbst das Stück und die Bühne und den neuen Akteur verstehen, der dort bald auftreten will. Gegen Ende der Schwangerschaft hatte ich das Gefühl von jemand mit einer großen inneren Gegensatzspannung, jemand Starkem und Freiem, der abseits der vielen geht, auf schwierigen Bahnen. Du Wolfsherz, sagte ich eines Abends, und da kam mir die Erinnerung an ein Buch, einen Abenteuerroman, den ich als junges Mädchen gelesen hatte, Mit dem Herren einer Wölfin, in dem hieß die Heldin Ronja. In dem Moment wusste ich, dass ich ein Mädchen bekommen würde, und sie sollte Ronja heißen. Witzigerweise hatte Gregor schon Sonja vorgeschlagen, und die kleine Veränderung gefiel ihm. Aber beim Thema Hausgeburt blieb er unnachgiebig. Für ihn war das die reine Romantik und ein unverantwortliches Risiko, dem er sein Kind nicht aussetzen wollte. Dagegen kam ich nicht an.«
»Das heißt, Ronja ist für dich kein sprechender Name mit einer bestimmten Bedeutung, sondern so was wie ein Klangsymbol für bestimmte Gefühle.«
»Funktionieren Namen nicht allgemein so in unserer Kultur? wenn sie nicht von konkreten Vorfahren kommen? Meine Eltern haben bei Sofie bestimmt nicht an ›Weisheit‹ gedacht. Bei mir kommt halt die spezielle Einbildung dazu, dass das Namensgefühl durch die Verbindung mit dem Kind entsteht. Den Namen Leni habe ich geträumt, und im Traum nannte der Name genau die Gefühle, die jedes Mal in mir aufstiegen, wenn ich in meinen Bauch gelauscht habe. Da kommt eine tiefheitere, menschenverbindende Seele, dachte ich, eine, die andere anzieht und um sich versammelt. Eine Leni. Und damit war klar, dass es wieder ein Mädchen werden würde.«
»Und unser Kind? Dein drittes?«, fragt Bo. Er ist jetzt hellwach, die Müdigkeit von vorher ist verflogen, der Schmerz im Knie vergessen. Ihm ist, als habe er mit seiner Liebsten unbekanntes Gelände betreten, mit unsicherem Untergrund, und er weiß nicht, ob der Boden trägt. Doch er will weitergehen, gar keine Frage.
»Ich bin gegen Arno«, sagt Sofie. Ihr Blick ist ernst. »Er hat für mich nichts Germanisches. Er ist kein Bodo Ingo Gernot Thorsten. Der Geist, der aus ihm spricht, ist irgendwie anders, ein bisschen fremd und ungelenk und zwischen den Stühlen, aber im Herzen treu und bereit, wenn es drauf ankommt.« Sofies Stimme ist leise geworden. »Mein erstes Gefühl war: Gib ihm einen jüdischen Namen. Dann dachte ich: Jakob. Einer, der mit seinem Schicksal ringt. Der vielleicht mal ein großes Volk wird.«
»Das war Abraham«, sagt Bo.
»O je, ich bin nicht sehr bibelfest.« Sie wartet. »Könntest du dir den Namen vorstellen?«
Bo lässt eine Zeit verstreichen. »Ja, könnte ich.« Seine Lippen bilden ein Lächeln. »Klingt doch gar nicht schlecht, Jakob … Anders, nehme ich mal an.«
Sofie guckt entschuldigend. »Ich hätte schon gern, dass er so heißt wie seine Schwestern. Hättest du was dagegen?«
Er schüttelt den Kopf. Dann streckt er sich ausgiebig. Er weiß nicht, was er empfindet. »Aber wenn es doch ein Mädchen wird, heißt sie Käthe!«, sagt er im ironischen Ton eines männlichen Machtworts.
»Ist es nicht schlicht eine Frage der Macht? Also ich kann mir gut vorstellen, wie verunsichernd es für einen Mann sein muss, wenn er in so einem fremden Erfahrungsbereich mit einem rein weiblichen Akt konfrontiert wird, den er kaum beeinflussen kann. Ein extrem gewaltsamer und erschreckender Akt obendrein. Er hat überhaupt keinen Zugriff mehr auf seine Frau, die ganzen gewohnten Dispositive der Macht, könnte man sagen, sind ausgeschaltet. Er kann seine Frau jetzt bewundern und anbeten, er kann sich vor ihr entsetzen, sich vor ihr ekeln, sie bedauern, aber er kann nichts tun. Wäre es nicht denkbar, dass das Unbehagen, von dem Sie gesprochen haben, mit dieser Machtverschiebung zugunsten der Frau zusammenhängt?« Frau Autré fing den Blick ihrer Tochter auf. »Pardon, von dem du gesprochen hast, Bo, wollte ich sagen.«
Bo dachte nach. »Ich glaube nicht«, sagte er schließlich. »Charlotte.« Die Anrede kam auch ihm noch nicht leicht über die Lippen, nachdem Sofies Mutter und er erst am Morgen beim Frühstück auf einen Stoßseufzer von Sofie hin zum Du übergegangen waren und dezent die Kaffeetassen darauf angeklickt hatten. Er blickte sein