Sofie trommelte am Lenkrad, während sie in den Sonntagabendverkehr auf der A7 einscherte. »Er wollte mich unbedingt als Schauspielerin sehen, ständig hat er von meiner kommenden großen Karriere geredet. Ich war das Kind, das er hüten und pflegen und erziehen wollte, nicht Ronja. Und ich war mal wieder hin und her gerissen.« Einerseits war die Geburt in jedem Sinne das Gewaltigste, was ihr im Leben widerfahren war. Sie fühlte sich so voll in ihrer Kraft wie nie zuvor und wollte nicht einsehen, wieso die Mutterschaft, deren Erfahrung ihr endlich alle Lebensverhältnisse so zurechtzurücken schien, wie sie gehörten, auf einmal primär ein Karrierehindernis sein sollte, das man durch geschickte Alltagsorganisation mit Tagesmutter und Haushaltshilfe aus dem Weg räumte. Um welcher größeren Erfüllung willen? Andererseits verband eine warme, weite Dankbarkeit sie mit dem Mann, der sie zur Mutter gemacht hatte, und es beglückte sie, wie sehr Gregor an sie glaubte. Den Ausschlag gab schließlich …
Sie stockte und warf einen Blick auf Bo, der die Rücklehne schräg gestellt hatte und ihr halb liegend lauschte. »Kannst du dich noch erinnern, wie ich dir damals in Frankfurt von meiner Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule erzählt habe?«, fragte sie.
Hm, dunkel. Bo überlegte. Irgendwas von Kleist hatte sie vorgesprochen, nicht wahr? Aber was … nein, das wusste er nicht mehr.
»Im blutgen Feld der Schlacht muss ich ihn suchen, den Jüngling, den mein Herz sich auserkor!«, rief Sofie pathetisch in die Runde.
»Mmm, m-hmmm, m-hmmm«, machte Luzie langgezogen, und die anderen Frauen griffen das Summen auf, spannen es mit rhythmischen Variationen aus, spielten mit der Melodie, differenzierten die Stimmen, bis die Vorsängerin nach einer Weile den wortlosen Gesang mit einem entschiedenen »M-hm-hmmm!« wieder beendete.
»M-hm!«, bestätigte Sofie. »Na, von ›auserkor‹ konnte in der Situation, wo ich gerade aus der Band ausgestiegen war und mich von Fred getrennt hatte, natürlich gar keine Rede sein.« Aber wovon konnte die Rede sein? Wenn sie sich, so schwer es fiel, in die Gemütslage von damals zurückversetzte, dann war sie in Wirklichkeit vor ihm geflohen und hatte sich, schien ihr später, als sie sich hinzudenken traute, von dem Gang nach Hamburg auch versprochen, diesen Jüngling von sich fernzuhalten, innerlich wie äußerlich, dessen Liebe ihr in einem Moment klargeworden war, wie er falscher nicht hätte sein können. Sie wollte diese neue Fessel nicht, sie wollte sich endlich frei bewegen. Ja, gut, das Singen mit ihm hatte etwas in ihr getroffen, und als Freds Frau hatte sie sich sicher gefühlt und sich voll darauf einlassen können, doch als Fred fort war und als Nächster gleich Bo vor ihr stand mit seinem ganzen nackten Verlangen, bekam sie den Horror. Zu viel. Es war alles zu viel. Sie wollte gar nicht wissen, wie tief er nun wirklich in ihrem Herzen saß, sie wollte ihn dort herausreißen, blutig, wenn es sein musste, schon den ersten zarten Keim der Versuchung und überhaupt die ganze verfluchte Illusion der romantischen Liebe, die sie mehr denn je verachtete; herausreißen und zertreten.
»Frei, wie der Wind auf offnem Blachfeld, sind die Fraun, die solche Heldentat vollbracht, und dem Geschlecht der Männer nicht mehr dienstbar.« Die Worte von einst sprangen sie an, und Sofie sprang ihrerseits auf und warf sie den anderen mit dramatischer Gebärde hin, als stände sie auf der Bühne. Sie strich sich die Haare zurück, sang: »Frei wie der Wind sind die Frauen!«
»Frei wie der Wind sind die Frauen!«, antworteten alle, und prompt entwickelte sich der nächste Kreisgesang, länger und temperamentvoller als der erste, mit Solostimmen und tänzerischen Einlagen, mit gehecheltem »Blachfeld! Blachfeld!« im Hintergrund und lautem, fast geschrienem »Nicht mehr dienstbar!«, bis Sofie ihn schließlich mit einem gehaltenen »… wie der Winnnnd« ausklingen ließ. Die Frauen strahlten vor Freude und Energie, als sie sich hinsetzten und die Blicke wieder erwartungsvoll auf die Erzählerin richteten.
»Ich war also ziemlich planlos auf der Suche nach dem dritten, dem zentralen Text, den ich für das Vorsprechen in Hamburg nehmen konnte, und als ich in Kleist geblättert habe und auf das Stück gestoßen bin, war die Entscheidung schnell gefallen.« Sie verstand nicht so recht und es war ihr letztlich auch nicht so wichtig, worauf dieser Dramatiker mit seinen gewaltsamen, zwanghaft hochtrabenden und dann wieder grotesk kalauernden Blankversen hinauswollte, für sie war die Grauensgeschichte von der Amazonenkönigin Penthesilea und dem Griechenkönig Achilles, die sich töten müssen, um sich lieben zu können, selbst eine Art Schlachtfeld, auf dem sie ihren eigenen inneren Kampf austragen konnte. Sie arbeitete akribisch an ihrer Stimme, um ihr den Klang äußerster Verlorenheit zu geben, mit dem sie diesen ganzen Sprache gewordenen Wahnsinn als Mensch, als Frau vortragen konnte. Sie haschte nach einem festen Schicksalsfaden, wollte glauben und glaubhaft machen, dass diese wider Willen Liebende unter dem Ansturm der »wie losgelassne Hunde« tobenden Begierden allem Anschein zum Trotz doch nicht selbst zur Hündin werden musste.
Gregor hatte über die Jahre nie aufgehört, von dieser Prüfung zu schwärmen: wie sie die völlige Entgrenzung der Amazonenkönigin nicht mit der üblichen blindwütigen Raserei gespielt habe, sondern mit einer Traumentrücktheit, unheimlich ruhig und doch zum Zerreißen gespannt, die alle gängigen Klischees von Geschlechterkampf und Wahrheit des Unbewussten weit hinter sich ließ. Gerade durch ihre bebende, verschwebende Stimme und die Sparsamkeit der Gestik habe sie Penthesileas vermeinte Individualität als Konglomerat reiner Affektreflexe enthüllt, beherrscht von Irrsinn und Gewalt als den Zwangsprodukten der gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse, und damit alle Mythenbildungen, die auch mit revolutionären Vorzeichen an dem Stoff unternommen worden waren, in einem viel revolutionäreren Sinne dekonstruiert. Sofie war sich all dessen nicht so sicher. Das Stück war ihr weit weg, als er ihr das Angebot machte. »Aber dem Reiz, die Rolle zu spielen, konnte ich einfach nicht widerstehen. Und damit, das konnte Gregor natürlich nicht ahnen, war ich sofort wieder im Kampf mit Bo.«
»Und jeder Busen ist, der fühlt, ein Rätsel.« Nach der Aufnahmeprüfung war ihr plötzlich dann doch, als drängte sie »ihr töricht Herz«, ihm, dem »Lieben, Wilden, Süßen, Schrecklichen«, so schnell wie möglich mitzuteilen, dass sie bestanden hatte. Als wüsste er von ihrem Kampf und wartete begierig auf den Ausgang.
»Ich hatte das Gefühl, es dir unbedingt erzählen zu müssen, aber zu der Zeit hat ja nicht einmal Egon gewusst, wo du abgeblieben warst.« Bo brummte bestätigend. Er oder sie, eines von beiden hatte in den Jahren immer dafür gesorgt, dass sie sich verfehlten.
Also vergaß sie ihn – bis zu ihrem unerwarteten Wiedersehen zwei Jahre später – und dann war er ihr natürlich wieder präsent, als sie in der Spielzeit 1979/80 als Gregor Hentschlers Penthesilea auf der Bühne des Hamburger Thalia Theaters stand. Mit umwerfendem Erfolg. Sie war an einem anderen Punkt im Leben als zu Beginn ihrer Ausbildung, fühlte etwas wie schauderndes Mitleid mit dem kranken Dichterhirn, das sich diese Perversion liebender Schutzlosigkeit hatte ausdenken müssen, diese aneinander vorbeirauschenden Scheindialoge zwischen zwei Scheinliebenden, eingesponnen in Wahn die eine, in Konvention der andere, beide gleich unfähig, sich wahrzunehmen. Wie sehr sich ein Mann doch verkunsten konnte, wenn er im Leben keinen Fuß auf den Boden bekam. Gerade dieser tiefe Widerwille gegen den Geist des Stücks jedoch schien es ihr zu ermöglichen,