Während dieser Worte breitete sich Bitterkeit in meinem Mund aus, ich sah quasi vor mir, wie Natalia kampfbereit die Hände zu Fäusten ballte. Die Waffen zu strecken, käme für sie nicht infrage, sie musste siegreich aus der Schlacht hervorgehen. Selbst wenn der Befehl unseres Vaters anders lautete.
Ich werde sie wohl auf ewig zur Feindin haben, Virgil.
Des Weiteren, so teilte mein Vater uns mit, haben sich Dorin und Natalia in Iaşi vermählt. Ich erkenne ihren Ehestand an, betonte er mit einem scharfen Blick in meine Richtung, und heiße meinen Neffen Dorin nunmehr als Schwiegersohn in der Familie herzlich willkommen. Ich wünsche beiden alles Glück der Welt. Wie ihr bereits sehen konntet, wurde ihre Liebe vor vier Monaten mit einem Töchterchen gekrönt, das vor ihrer Geburt unverschuldet zum Zankapfel geraten war. Ich wünsche, dass die Hochzeit sowie die Taufe der kleinen Sofia in unserer Welt nachgeholt wird, damit es der Familie vergönnt ist, an diesen beiden besonderen Ereignissen im Nachhinein teilzuhaben. Preot Ştefan steht jederzeit bereit. – Es hat mein Vaterherz zutiefst verletzt, dass du mir all dies vorenthalten hast, Natalia, und zwar nur aus dem einzigen Grunde, weil du ungefragt voreilige Schlüsse gezogen hattest. Wisse, mein Engel, dass ich längst in Erwartung gewesen bin, dass Dorin um deine Hand anhält, und mehr als bereit war, euch meinen Segen zu erteilen. Und um dem Ganzen einen glaubhaften Siegel aufzudrücken, Dorin, werde ich in Kürze bei unserem ehrwürdigen Vorfahren um deine Weihe bitten.
Ich hörte Natalias Atem stocken. Dann war es vorbei mit ihrer gestrengen Haltung. Sie fasste nach Dorins Hand, dem längst ob der wohlwollenden Worte meines Vaters stille Tränen von den Wangen tropften.
Mir hingegen hatte es gänzlich den Atem verschlagen, sodass ich nur noch verschwommen mitbekam, wie plötzlich alles in Bewegung geriet. Natalia lag auf einmal zu Elenas Füßen und tat Abbitte, die diese ihr unter Freudentränen gewährte und sie anschließend in ihre schwesterlichen Arme schloss, während Dorin vor meinem Vater kniete und ihm ergriffen die Hand küsste. Daraufhin wurde Tante Judith unter heißen Tränenströmen umarmt.
Es war ein einziger Reue-, Vergebungs- und Freudentaumel. Nur ich, der ich so sehr auf Vergebung gehofft hatte, saß unbeachtet auf meinem Platz und sah dem Spektakel wie ein Theaterzuschauer zu.
Doch es war kein Theater, Virgil. Sämtliche Ventile, die über so lange Zeit sorgsam verschlossen gehalten worden waren, schienen sich auf einen Schlag geöffnet zu haben und mit einem gewaltigen Zischen einen Strom zurückgehaltener Gefühle freizusetzen. Alle wurden davon mitgerissen. Nur ich blieb außen vor, als gehörte ich gar nicht mehr dazu.
Die Bitterkeit schnürte mir die Kehle. Gerade als ich beschloss, mich davonzuschleichen, legte sich eine Hand auf mein Knie. Es war diejenige Victors, der ebenso wie ich nur ein stiller Beobachter war. Wir waren beide nicht Teil dieses Szenarios.
Die Heilung beginnt, sagte er, mit Blick auf Natalia.
Diese hatte sich derweil an die Brust unseres Vaters geworfen, für den sie bereits wieder ein Engel war, und küsste ihn unter Freudentränen wieder und wieder. Sie hatte ihr Ziel erreicht – mit brachialer Gewalt, die ihr verziehen wurde.
Damit wieder zusammenwachsen kann, was durchtrennt wurde, hörte ich Victor eindringlich fortfahren. Damit unsere Familie wieder heil und ganz wird, Nenea Nicu. Nur so können wir überleben.
Wusstest du, Vicky, erwiderte ich mit trockenem Mund, dass mir unser Vater einst prophezeite, dass du mich eines Tages besiegen würdest?
Bin ich denn dein Feind?
Nein, aber der Sohn, der nie hätte geboren werden dürfen.
Damit ließ ich ihn sitzen und meine Familie sich selbst feiern.
Irgendwann später
Lieber Virgil,
ob ich womöglich unter Paranoia leide, fragte mich Tante Judith allen Ernstes. Wie sonst könne es angehen, dass ich überall Feinde vermute, sogar in der eigenen Familie.
Warum hat man mich dann so ausgiebig vor ihnen gewarnt? Und das von Anfang an! Mein Vorfahr war der Erste, der es tat. Ich solle niemandem trauen, so lauteten seine Worte. Meine Feinde lauerten überall, sogar in der eigenen Familie. Ich wusste mir damals keinen Reim darauf zu machen. Später erklärte mir Vater am Altar – auf dem mein totes Brüderchen Géza aufgebahrt lag, welches meine Stiefmutter Marcela nur wenige Tage zuvor geboren hatte –, dass mein wahrer Feind Victor sei. Denn er würde durch sein Dasein die Prophezeiung durchkreuzen und den Sieg davontragen – Nomen est omen! Und dann kam Dorin mit seiner Sage, die davon berichtete, dass nur einer der beiden darin beschriebenen Brüder, die sehr genau auf uns beide passten, überleben würde, und seine Tante ihm damals versichert habe, dass er derjenige sein werde.
Das kommt dabei heraus, wenn man Märchen studiert, antwortete meine Tante tonlos. Sie werden einem irgendwann zur Realität. Das gleiche Phänomen habe sie damals an Dr. Farrell festgestellt.
Damit erhob sie sich und verließ traurig den Raum, als hätte sie mich aufgegeben wie einen hoffnungslosen Fall.
Warum speiste man mich dann all die Jahre mit diesem Irrsinn?
Viel später, ich weiß nicht, wann
Lieber Virgil,
Ich fühle mich zerschlagen und zermalmt. Alles an mir fühlt sich taub an. Es ist wie ein immer wiederkehrender Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt. Ich möchte, dass er endlich vorbei ist!
Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, was wahr ist und was nicht. Ich bin wieder da angekommen, wo ich schon einmal vor vielen Jahren stand, als wenn ich mich ewig nur im Kreis gedreht hätte. Ich bin dessen so müde. Ich will nur noch schlafen. Doch selbst der Schlaf lässt mich nicht in Ruhe und schickt mir üble Träume.
Tante Judith hat mich anscheinend doch nicht aufgegeben. Sie sitzt an meiner Bettseite. Die Türen sind geschlossen. Mach, dass es aufhört, bettele ich wie ein kleines Kind.
Nicht mehr lange, verspricht sie mir und streichelt mir liebevoll übers Haupt. Sie strahlt Ruhe und Zuversicht aus. Als wüsste sie. Als wüsste sie, wie alles enden wird.
Sie trägt keine Schwesterntracht mehr. Auch keinen Arztkittel. Sie wirkt gelassen und sieht sehr jung aus. Wie frisch verliebt.
Bist du glücklich, Tante Judith?
Ja, sehr!
Ich freue mich für sie. Sie hat es verdient, glücklich zu sein.
Weißt du, wie es enden wird?
Sie nickt.
Woher weißt du es? Hast du es geträumt?
Er hat es mir verraten.
Verrätst du es mir auch?
Besser nicht …
Wir sind wieder in unserem alten Traumraum, nicht wahr?
Du hast dich schon als Knabe stets dorthin zurückgezogen, wenn du dich verletzt fühltest. Oft war ich an deiner Seite, um deinen Schmerz zu lindern.
So wie jetzt?
Jetzt sitzt jemand anderes dort.
Wer?
Du wirst ihn erkennen, sobald du ihn in dein Herz lässt.
Und wenn ich nicht will?
Du musst!
Warum?
Damit wir weiterexistieren können. Es braucht nur einen einzigen Menschen, der an uns glaubt. Nur einen, dem du deine Geschichte erzählen kannst …
Ihre Züge