Von all den festlich gekleideten Menschen, die sich hier aneinander, mit Gläsern und Tellern bewaffnet, vorbeidrängten, kannte ich keinen einzigen. Ich blickte mich um. Weihnachtsdekoration suchte man vergebens. Dafür gab es voluminöse Blumengestecke, die einen beinahe mediterranen Duft in der englischen Winterlandschaft verbreiteten. Hätte es die modern gekleideten Gäste nicht gegeben, man hätte sich in Jane Austens Zeiten wähnen können.
Der helle Sandstein war von weichem Licht überflutet und die lebensgroßen Familienporträts wurden von einzelnen Spots angestrahlt. In diese Halle gehörten Leute in langer Jagdkleidung und vornehmen Manieren.
Mit einem Mal wurde ich wieder nervös. Sehr nervös sogar! Was wäre, wenn hier einer meiner Gäste auftauchte? Oder Georges Frau? Wenn ich auch neugierig auf sie war, so fehlte mir im Moment der Sinn für ein solches Zusammentreffen. Meine Handflächen waren feucht-kühl und das Täschchen drohte, mir zu entgleiten, wenn ich nicht aufpasste.
Ich wanderte aus der Halle in einen rot gestrichenen Raum. Wo auch immer ein freies Plätzchen gewesen war – jetzt saß jemand dort. Die Luft sirrte von den Stimmen und es wurde immer wärmer, je weiter ich kam.
Die Räume, durch die ich ging, zogen sich allesamt an der weitläufigen, rückwärtigen Parkfront des Hauses entlang. Im größten, zentralen Raum war das Büffet aufgebaut. Ich suchte mir einen Teller und nahm etwas Lachs und Weißbrot. Eigentlich hatte ich keinen Appetit und pickte mit der Gabel etwas lustlos in den hellroten Fisch. Aber ich brauchte einfach etwas, das meine Anwesenheit rechtfertigte und vor allem, mit dem ich mich beschäftigen konnte.
Als ich auf eine mannshohe Standuhr blickte, stellte ich überrascht fest, dass ich bereits eine gute Stunde hier war und bedauerte gleichzeitig, dass die Zeit so langsam verging.
Was hielt mich eigentlich davon ab, mein Handy zu benutzen, mir ein Taxi zu rufen und einfach nach Hause zu fahren? Zudem steigerte sich meine Nervosität von einem Atemzug zum nächsten. Ich wollte George gar nicht mehr sehen. Was könnte ich ihm denn sagen? Was könnte ich tun? Das hier war keines unserer normalen Treffen und ich fühlte mich unendlich verunsichert.
Verführung - Teil 2
Gerade kramte ich in meinem Täschchen, als eine Bewegung durch die Leute ging. Plötzlich, wie auf ein geheimes Zeichen hin, erhoben sich nach und nach alle Gäste und bewegten sich in Richtung Halle.
Da ich nichts Besseres zu tun hatte, außer mir ein Taxi zu rufen, schloss ich mich den anderen einfach an. In der Halle reckte ich mich auf die Zehenspitzen und erkannte George, der oben auf der Galerie stand. Er trug einen Tweedanzug, ganz Landedelmann, mit einer Nelke im Knopfloch und blickte auf sein »Publikum« herab. Bildete ich es mir ein, oder glitt sein Blick suchend über die unter ihm Ausharrenden? Er hob eine Hand, und augenblicklich trat Stille ein.
»Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, liebe Freunde! Ich möchte Sie alle recht herzlich in meinem Haus begrüßen. Sie alle schätzen mich als umgänglichen und entspannten Menschen …« Er sah lächelnd herab und erntete das Gelächter, das er herausgefordert hatte. »… deswegen dachte ich, dass ich in dieser Tradition den heutigen Abend gestalten sollte. Von daher schwadroniere ich nicht lange, sondern bedanke mich nur für die hervorragende Mitarbeit aller im hinter uns liegenden Jahr und wünsche uns allen das Beste für die kommenden Monate. Und da ich kein Scrooge bin, möchte ich Sie nochmals an das Büffet bitten. In diesem Sinne: Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins Neue Jahr!« Die letzten Worte rief er in die Halle und alle antworteten ihm unisono.
Er nickte dankend für den aufbrausenden Applaus und bewegte sich auf die Treppenstufen zu. Das war mein Stichwort. Es war Zeit zu gehen. Wieso war ich eigentlich hergekommen? Neugier auf sein wirkliches Zuhause? Wenn solch eine Villa überhaupt ein Heim sein konnte! Oder auf seine Frau?
Jetzt brauchte ich nur noch eine ruhige Ecke, um zu telefonieren. Deshalb verließ ich die Halle und trat in den kalten Winter hinaus. Schneeflocken hatten mittlerweile wieder begonnen, vom Himmel zu tanzen. Ein paar von ihnen blieben an meiner Haut kleben und hinterließen eine eisige Stelle.
An einem geschützten Platz, neben einer dorischen Säule, wählte ich die Taxidienst-Nummer, doch ich bekam kein Netz. Fluchend versuchte ich es abermals.
»Das klappt hier nicht. Aber du kannst gern den Apparat in meinem Arbeitszimmer nehmen.«
Ich erstarrte und Georges tiefe, sonore Stimme jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ohne ein Wort zu sagen, ließ ich mein Handy in meinem Täschchen verschwinden.
»Okay.« Konnte eine Stimme noch emotionsloser klingen?
Er streckte den Arm aus und legte seine Hand beinahe auf meinen Rücken. »Hier entlang …«
Stumm folgte ich ihm durch die Schar der Gäste. Eigentlich hätte ich anders handeln sollen. Waren wir das letzte Mal nicht im Streit auseinander gegangen? Hatte er mir nicht verletzenderweise einen Toy-Boy angeboten? Eigentlich hätte ich mich von ihm fernhalten sollen! Aber was tat ich? Das war nicht klug – gar nicht klug … Niemals hätte ich ihm in sein Büro folgen sollen – und dennoch tat ich es!
***
Die Stimmen wurden leiser, die Musik schien nur noch wie eine Spinnenwebe hinter uns herzuschwingen, bis sie gänzlich verklang.
»Du willst wirklich schon gehen?«, fragte George und öffnete eine Tür. Wir standen in einem historischen Raum, der mit der modernsten Bürotechnik bestückt war.
»Ja, ich habe noch Termine in London«, sagte ich so beiläufig wie nur irgend möglich.
»Arbeitest du denn nicht mehr für mich?«, fragte er genauso beiläufig.
»Wer sagt, dass es ein geschäftlicher Termin ist?«
Wir bewegten uns über ein kommunikatives Mienenfeld und achteten beide genauestens auf jeden unserer Schritte.
»Verstehe. Dann geht es mich natürlich nichts an.« Er deutete auf den Apparat.
»Muss ich etwas vorweg wählen?«
»Nein.« Eigentlich hätte er jetzt hinausgehen können, doch er stand noch immer da und wartete. »Du kommst klar?«
»Ja, danke. Ich kann telefonieren«, sagte ich sarkastisch.
»Bleibst du, wenn ich dir einen Drink spendiere?« Sein Gesicht war nicht zu deuten. Wir waren uns beide der Tatsache bewusst, dass wir den Rubikon überschreiten mussten und keiner wagte, den ersten Schritt zu tun.
»Warum nicht …«, antwortete ich zögerlich.
Nach einer Weile sagte George: »Ich war lange weg.« Wie passte das? War das eine Entschuldigung, weil er sich nach der letzten Nummer nicht mehr gemeldet hatte?
»Dann solltest du vielleicht lernen, wie man telefoniert.«
»Zynismus steht dir nicht.«
»Aber dir!«
»Wenn du willst, fahre ich dich nach Hause. Auf ein Taxi wartest du heute Nacht lange.«
»Danke.«
»Danke ja oder Danke nein?«
Was auch immer er in jener Nacht in Alexanders Haus getan hatte, es stand wie eine gewaltige Mauer zwischen uns und ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich sie einreißen wollte. Denn wenn man es genau betrachtet, so bekommt man nach dem Einreißen oft Dinge zu sehen, die einem wenig gefallen.
»Ich hatte ganz vergessen, dass du so witzig sein kannst.« Er zog eine Schachtel Zigaretten aus seinem Jackett. Ich trat auf ihn zu und hielt fordernd eine Hand hin. Er gab mir eine und zündete sie an.
»Auch einen Whiskey?«, fragte er und goss in zwei Gläser ein, nachdem ich genickt hatte. Eines reichte er mir. »Gin Gin.«
»Gin Gin.«
Wir leerten unsere Gläser. Augenblicklich löste sich ein Teil meiner Anspannung. Sein