Inge unterbrach ihre Mutter.
»Mama, Papa und du, ihr seid ein Vorzeigepaar, ich lasse mir meine romantische Vorstellung von Liebe nicht nehmen.«
Teresa nickte.
»Das hast du weder von Papa und mir, da kommst du ebenfalls auf deine Großmutter väterlicherseits.«
»Liebste Mama, manchmal frage ich mich wirklich, ob es eigentlich irgendwelche Eigenschaften gibt, die ich von Papa oder dir geerbt habe. Denn was immer auch ein wenig anders ist, das habe ich von dieser Oma geerbt, die ich leider nicht kennengelernt habe, ich kann also nichts überprüfen.«
Teresa winkte ab.
»Musst du auch nicht, mein Kind. Es sei nur so viel gesagt, deine Oma war eine großartige Frau, und …, nun ja, das bist du ebenfalls. Papa und ich erfreuen uns jeden Tag aufs Neue an dir und deiner großartigen Familie.«
Sie stand auf.
»So, jetzt ist genug geredet. Ich muss zu meinem Magnus zurück. Wir wollen gleich noch einen Spaziergang machen, und ich denke, wir nehmen Luna mit. Mit einem Hund lernt man ständig neue, nette Leute kennen.«
»Mama, noch mehr Leute?«
Teresa fiel in das Lachen mit ein.
»Stimmt auch wieder. Aber wir nehmen Luna trotzdem mit, wir holen sie gleich ab. Wo ist sie eigentlich?«
»Draußen im Garten, da hat sie immer etwas zu entdecken.«
Als habe Luna mitbekommen, dass gerade über sie gesprochen worden war, kam sie an die Terrassentür, kratzte. Und Teresa beeilte sich, ganz schnell das Weite zu suchen. Sie liebte Luna über alles, aber nicht so, wie sie jetzt aussah, von dem schönen weißen Fell war kaum noch etwas zu erkennen.
Luna war von oben bis unten mit Dreck verschmiert, aber sie war, wie es schien, bestens gelaunt.
Darum sollte Inge sich jetzt mal kümmern …
*
Julia Herzog hatte manchmal noch immer das Gefühl, in einem Traum zu sein, aus dem sie jeden Augenblick erwachen musste in eine Realität, die so ganz anders war.
Es war kein Traum, oder richtiger gesagt, sie liebte ihren Traum, auch wenn der inzwischen ein wenig gestutzt war. Doch das machte nichts.
Wenn sie daran dachte, welche Existenzängste sie hatte, wie leer ihr Restaurant immer gewesen war.
Es war schrecklich, und eigentlich wollte sie sich an diese Zeit nicht mehr erinnern.
Wäre Rosmarie Rückert nicht gewesen, dann gäbe es sie an diesem herrlichen Fleckchen Erde längst nicht mehr, dann hätte der ›Seeblick‹ einen neuen Besitzer.
Seit jener Veranstaltung hatte sich das Blatt gewendet, es war immer voll. Und ganz verrückt war, dass sie, seit man bei ihr auch herkömmlich essen konnte, Speisen die sie für ihren früheren Chef einen Stern erkocht hatte, mehr vegetarische und auch vegane Gerichte verkaufte. Als der ›Seeblick‹ ein rein vegetarisches und veganes Restaurant gewesen war, ihr eigentliches Konzept, hatte sich kaum jemand zu ihr verirrt. Jetzt fanden die Leute es chic, auch mal etwas anderes essen zu können.
Was für eine verrückte Welt!
Darüber wollte und konnte Julia nicht länger nachdenken, man durfte nicht an der Vergangenheit hängen bleiben, sondern man musste nach vorne blicken, Visionen haben, groß denken.
Sie würde auch für den ›Seeblick‹ einen Stern erkochen, das hatte Julia sich fest vorgenommen, und damit ihr Traum sich teilweise erfüllen würde, sollte es mit einem vegetarischen Gericht sein.
Sie würde nichts überstürzen, aber es war schön, sich das auszumalen, sie wusste schließlich, wie es sich anfühlte, wenn man einen Stern bekam, und das nicht, weil man sympathisch war, weil endlich mal eine Frau an der Reihe kommen sollte. Nein, es war ein erbitterter Wettkampf gewesen, den sie als einzige Frau unter Männern geführt hatte. Es war ein hart erkämpfter Sieg gewesen, allerdings einer mit einem bitteren Beigeschmack. Ihre Partnerschaft war dabei zerbrochen, und es war wohl für jede Frau bitter, ihren Lebensgefährten zusammen mit der besten Freundin im Bett zu erwischen.
Schwamm darüber …
Es war vorbei, und wer weiß, wofür es gut war, denn wären sie zusammengeblieben, hätte es den ›Seeblick‹ nicht gegeben. Jedes Ding hatte zwei Seiten.
Heute Mittag war das Restaurant nicht so gut besucht, doch das machte Julia keine Sorgen, für den Abend war der ›Seeblick‹ ausgebucht. Die Gäste kamen wohl alle lieber abends, obwohl es mittags sehr viel preiswerter war und es täglich mehrere wechselnde Gerichte gab.
Julia verabschiedete gerade Stammgäste, die täglich kamen. Es waren ein Architekt und seine Angestellten, als noch ein Gast kam.
»Haben Sie schon geschlossen?«, erkundigte er sich.
Julia verneinte es, und sie wurde das Gefühl nicht los, diesen Mann schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Vermutlich erinnerte sie sich daran, weil er ihr Herzklopfen verursachte.
Der Mann war ungefähr einen Kopf größer als sie, es war nicht schwer, das zu überbieten, denn Julia war klein, und für eine Köchin war sie auch sehr schlank. Sie entsprach in keiner Weise dem Bild, das man sich von einem Koch oder einer Köchin machte. Die sah man meist rundlich.
Der Gast hatte wie sie braune Haare, braune Augen. Und wenn er sie anblickte, bekam sie Herzklopfen.
Das war verrückt!
Wer war dieser Mann?
Woher kannte sie ihn?
Vor allem, warum verwirrte er sie so sehr?
Fragen über Fragen, die sie allesamt verdrängte und ihm ganz professionell aufzählte, was für ein Angebot es auf der Mittagskarte gab. Zusätzlich legte sie ihm die sehr geschmackvoll gebundene Speisekarte auf den Tisch, die er ausgiebig studierte, sich dann aber für eines der angebotenen Mittagsgerichte entschieden, knusprig gebackenes Hühnerfleisch mit Ratatouille und gebratenen Kartoffelspalten. Dazu bestellte er ein Mineralwasser mit wenig Kohlensäure.
»Das haben Sie doch?«, erkundigte er sich.
»Bei mir bekommen Sie Mineralwasser ohne, mit wenig und mit viel Kohlensäure«, sagte Julia, dann ging sie, und sie brachte dem Gast das Wasser nicht selbst, sondern ließ es ihm durch ihre Bedienung servieren.
Sie ging in die Küche, konnte es aber nicht lassen, immer wieder nach dem Gast zu sehen.
Wer war er?
Sie hatte ihn nicht im Sonnenwinkel, Hohenborn, am See oder sonst irgendwo in der Gegend gesehen, da war Julia sich sicher, und er arbeitete auch nicht bei einem ihrer Lieferanten oder auf dem Großmarkt, in dem sie häufig anzutreffen war.
Julia ließ dem Gast das Essen servieren, freute sich aus der Entfernung, dass es ihm offensichtlich mundete.
Sie gab ihrem Souschef frei, sagte dem Küchenpersonal, dass es ebenfalls gehen können, wenn die Küche wieder ajour sei.
Das konnte sie, weil sie wusste, dass jetzt niemand mehr kommen würde, dazu war es zu spät.
Sie ging wieder hinaus, das Restaurant hatte sich mittlerweile bis auf den verspäteten Gast geleert. Die Bedienung erkundigte sich: »Frau Herzog, kann ich jetzt auch gehen? Dann schaffe ich es noch rechtzeitig zum Friseur, ich möchte heute Abend, wenn die Gäste kommen, ordentlich aussehen, meine Haare müssen unbedingt geschnitten werden.«
»Ja, ja, gehen Sie nur, ich komme allein zurecht.«
»Ist ja auch nur noch dieser eine Gast da, und der scheint ziemlich pflegeleicht zu sein. Und weitere Wünsche scheint er nicht zu haben, ich habe mich erkundigt.«
Die Bedienung war froh, gehen zu können, und Julia gestand sich ein, dass es ihr nicht einmal unangenehm war, mit diesem