Nicki griff nach ihrem Weinglas, trank einen großen Schluck.
»Du musst nicht weiter reden, Roberta, es trifft alles zu. Ich habe einen Entschluss gefasst, und um nicht wankelmütig zu werden, habe ich, ehe ich zu dir ins Haus kam, bei meinem Chef fristlos gekündigt.«
Roberta wollte eigentlich auch etwas trinken, doch sie stellte ihr Glas erst einmal ab.
Hatte sie sich verhört?
Das musste sie hinterfragen.
»Nicki, du hast was getan?«
Beinahe trotzig sagte Nicki: »Du hast schon richtig verstanden. Ich habe fristlos gekündigt.«
»Nicki, bist du von Sinnen? Das ist ein toller Job, du verdienst gut, hast viele Freiheiten, die Arbeit macht dir viel Spaß. So etwas gibt man nicht einfach aus einer Laune heraus auf. Willst du wieder selbstständig sein, jedem Auftrag hinterher jagen? Es war doch so beruhigend für dich zu wissen, dass du jeden Monat deine Miete pünktlich zahlen kannst, ohne Klimmzüge zu machen. Nicki, ich glaubte bisher, dich einigermaßen zu kennen, das jetzt begreife ich nicht. Warum?«
Nicki zögerte.
»Roberta, halte mich jetzt nicht für verrückt, für überspannt. Es arbeitet schon länger in mir, ich habe es nur immer wieder unterdrückt. Ich muss herausfinden, was mit mir los ist, ich ticke nicht richtig. Und entweder begebe ich mich in psychotherapeutische Behandlung, oder …«
Sie brach ihren Satz ab, stand auf, ging zum Schrank, goss sich einen zweiten Grappa ein. Den brauchte sie jetzt, sie musste etwas trinken, was mehr Umdrehungen hatte als ein Wein. Es half nicht über Probleme hinweg, das war ein Trugschluss, doch es beruhigte sie. Damit konnte sie es vor sich rechtfertigen.
Als Nicki wieder saß, bemerkte Roberta: »Nicki, du hast deinen Satz nicht beendet. Oder … was soll die Alternative zu einer Therapie sein?«
Sie war sich sicher, doch wenn Roberta sie so kritisch anblickte, traute sie sich nicht, es auszusprechen. Doch das musste sie jetzt einfach tun, dann hatte sie ihre Ruhe.
»Ich werde meine Wohnung untervermieten, in der Lage nehmen dir Firmen Wohnungen wie diese mit Kusshand für Angestellte ab, die nur vorübergehend da sind. Und dann …«
Diesmal unterbrach Roberta ihre Freundin.
»Nicki, so lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Komm auf den Kern der Sache. Was willst du tun?«
Sie musste es sagen!
Nicki holte ganz tief Luft, und dann schmetterte sie es heraus: »Ich werde den Jakobsweg gehen und mir dabei alle Zeit der Welt lassen, dabei werde ich über mein Leben nachdenken, darüber, was bei mit verkehrt läuft, und ich werde hoffentlich Erkenntnisse erlangen.«
Roberta blickte ihre Freundin an, als habe gerade ein Geist zu ihr gesprochen. Nicki war ja für alle Überraschungen gut, doch das jetzt schlug dem Fass den Boden aus. Wenn sie jetzt gesagt hätte, dass sie eine Schweigewoche in einem Kloster machen wollte, trommeln, Lachyoga oder etwas von den Angeboten in Anspruch nehmen wollte, die man jetzt gerade anpries. Das hätte sie ihr abgenommen, aber der Jakobsweg?
Sie musste sie davon abhalten.
»Nicki, ich weiß nicht, welche romantischen Vorstellungen du da hast. Denkst du dabei an den französischen Film, den wir uns gemeinsam angesehen haben? Ich glaube, er hieß Jakobsweg auf Französisch oder so. Nicki, das ist keine Realität, das ist ein Film. Wenn man es ernst meint und konsequent durchzieht, dann bedeutet das Strapazen und Entbehrungen. Und das willst du auf dich laden? Und dabei willst du Erkenntnisse darüber gewinnen, wie es in deinem Leben weitergehen soll? Nicki, Nicki, worin hast du dich denn jetzt wieder verrannt.«
Roberta war ernsthaft bekümmert und besorgt, und das nahm Nicki ihr sogar ab.
»Roberta, ich bin nicht so wie du. Ich sehe nicht alles so klar. Ich weiß nicht, wie du, was ich will.«
»Ach, Nicki, es kommt nicht darauf an, was man will. Wenn es danach ginge, da hätte ich so viele Wünsche, die sich jedoch leider nicht erfüllen. Beispielsweise Lars …«
Roberta wurde von Nicki unterbrochen.
»Bei euch ist eitel Sonnenschein, er liebt dich über alles, das hat er ja wohl jetzt durch die wunderschönen roten Rosen bewiesen. So etwas habe ich noch nie bekommen.«
»Lars wird nie ganz der Mann an meiner Seite sein, er wird mich nicht heiraten, wir werden keine Kinder haben, und wenn ich …«
»Roberta, du wirfst mir vor, dass ich mir da etwas zusammenreime. Das kann ich an dich weitergeben. Wo, bitte schön, willst du noch Mann und Kinder in deinem Leben einbauen? Du bist voll ausgelastet, du liebst deinen Beruf über alles, gehst in ihm auf. Lars ist perfekt für dich, er macht sein Ding, und wenn er da ist, dann ist er es für dich, ohne Einschränkungen, er liebt dich. Es gibt keine andere Frau in seinem Leben, es gibt nur dich, ihr seid beide autark, ihr braucht niemanden. Anders ginge es nicht, und es würde auch überhaupt nicht funktionieren. Du bist zu beneiden. Und dabei bleibe ich. Ich werde den Weg gehen, schaden kann es nicht.«
Nickis Worte hatten Roberta schon ein wenig nachdenklich gemacht.
Träumte sie sich da eine heile Welt zusammen, wie Nicki glaubte, auf dem Jakobsweg die Wahrheit über sich herauszufinden?
»Wenn du dich beeilst, triffst du vielleicht auf Hannes Auerbach, der hat sich ebenfalls den Jakobsweg ausgesucht, um herauszufinden, wie es mit ihm weitergehen soll.«
Darauf sagte Nicki nichts, sondern griff nach ihrem Glas und trank.
»Roberta, hast du vielleicht ein paar Chips im Schrank? Die könnte ich jetzt brauchen.«
»Nicki, es tut mir leid. Was ich gerade gesagt habe, war blöd. Aber Hannes Auerbach ist wirklich auf dem Jakobsweg unterwegs. Dem ist gerade ganz gehörig sein Leben um die Ohren geflogen. Ich will es ja auch nicht abwerten. Es gibt viele Menschen, die auf den Jakobsweg schwören. Und wenn du der Meinung bist, dass du ihn gehen musst, dann tue es. Versprich dir nicht zu viel davon, dann kannst du auch nicht enttäuscht werden. So, und jetzt hole ich die Chips. Was hättest du denn gern? Natur, Paprika, Sour Cream?«
Nicki lachte.
»Ich kann mich nicht entscheiden, am besten bringst du sie alle mit.«
Roberta verließ das Wohnzimmer, um die Chips zu holen, Nicki blieb allein zurück. Ihre Freundin war nicht begeistert von ihrem Vorhaben, doch für sie fühlte es sich immer besser an. Sie würde es tun, sie war davon überzeugt, es tun zu müssen. Und das war eine Entscheidung, die sie aus eigenen, freien Stücken getroffen hatte, es war keine Empfehlung einer Kartenlegerin, es hatte niemand es aus einer Kristallkugel vorausgesagt, kein Kaffeesatz war beteiligt gewesen, nichts.
Das war ein Zeichen, ein gutes Zeichen.
Roberta kam mit den Chipstüten zurück, und Nicki riss zuerst die mit dem Sour Cream auf.
Die Chips schmeckten köstlich.
Nicki war froh, hergekommen zu sein. Nicht wegen der Chips. Roberta war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Sie würde ihr fehlen. Dennoch, sie würde den Jakobsweg gehen …, um das zu untermauern, legte Nicki demonstrativ den Hausschlüssel auf den Tisch.
»Den brauche ich erst einmal nicht mehr.«
Roberta ersparte sich, das jetzt zu kommentieren, sie sagte auch sonst nichts mehr zu diesem Thema. Nicki war erwachsen, sie war für sich selbst verantwortlich. Und auch wenn in ihrem Leben so einiges schiefgelaufen war, Nicki hatte immer noch rechtzeitig die Kurve