„Tradition!“ Katrin klatschte in die Hände und war dabei so ungeschickt, dass sie sich die Sonnenbrille von der Nase stubste. „Das ist es.“
„Was?“
„Das hier“, sie wedelte mit den Händen und versuchte, ihre verrutsche Brille wieder zurecht zu rücken, „alles.“
„Mallorca, oder was?“
„Ja!“
„Ich bin dabei“, sagte Olli. „Wann treffen wir uns wieder hier? Nächstes Jahr?“
„Ihr meint doch nicht …“, setzte Tom an, ohne es aussprechen zu können.
Katrin fiel ihm ins Wort und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Olli: „Ich auch. Sofort. Vielleicht nicht nächstes Jahr, weil ich da ja noch in Berlin bin und bestimmt kaum Geld habe. Aber vielleicht in zwei oder drei Jahren. Leute, das müssen wir schaffen!“
„Die Idee finde ich gut.“ Louisa nickte und drückte Toms Hand. „Es war so schön hier.“
„Ja, ja, ich wäre auch dabei. – Hey, es geht los!“ Conny war der Erste, der in der Reihe verschwunden war. Einem Schatten gleich, die Erinnerung streifend, so, als wisse man, dass da mal jemand gewesen war, ohne seiner innerlich habhaft zu werden.
Conny ist wie der Hunger, dachte Tom deprimiert, während er es genoss, dass Louisas Daumen über seinen Handrücken streichelte. Man bemerkt ihn, um ihn dann zu vergessen, weil man gerade gegessen hat und satt ist.
„Leute, das machen wir. Gebt mir euer Wort.“
„Hier hast du es“, gab Olli ihr einen Kuss auf die Wange. „Und jetzt muss ich mich verabschieden. Da will jemand von mir die Langeweile vertrieben bekommen, weil die Abfertigung so lange dauert!“
„Und ihr?“
„Ich bin dabei“, sagte Louisa. „Und du?“
„Klar!“
„Geilo.“ Katrin klopfte Tom auf die Schulter, nahm ihren Rucksack und griff nach dem Schminkkoffer, den sie unbedingt als Handgepäck aufgeben musste, aus Furcht, jemand könnte ihn ihr entwenden: Ein klobiges, metallisch schimmerndes Ding, das schon so abgegriffen war, dass man meinen konnte, es würde jeden Augenblick auseinanderbrechen. Katrin aber bestand darauf, dass der Schminkkoffer bei ihr blieb. Weil es der Koffer war, wie Louisa erklärt hatte, aus dem sie das erste Mal auf der Lohbrügger Bürgerbühne geschminkt worden war. Dort hatte sie die Liebe des Publikums gespürt, das nur darauf wartete, ihr Applaus zu spenden.
Tom hatte bei dieser Geschichte nur die Augenbrauen hochgezogen und Louisa einen vielsagenden Blick zugeworfen, der mehr ausdrückte, als er es jemals mit Worten hätte sagen können.
„So ist sie nun mal“, hatte Louisa ihre beste Freundin verteidigt und war dann mit Tom zum Pool gegangen, um dort mit ihm zu schwimmen, mit ihm zu kuscheln und sich das erste Mal, ehrlich und echt, zu küssen.
Nicht so ein flüchtiger Schmatz, wie sie anfangs für ihn übrig gehabt hatte, wenn sie sich zum Frühstück oder sich am Morgen zufällig auf dem Flur trafen. Nein, sie hatte ihm einen Kuss gegeben, der von solcher Zärtlichkeit gewesen war …
Zum Glück war er im kalten Wasser des Pools geschwommen. Die Hitze, die durch seinen Körper strömte, sich in seinen Lenden fokussierte und ihn glauben ließ, jeden Augenblick explodieren zu müssen, war das Schönste und gleichzeitig das Erschreckendste gewesen, woran er sich erinnern konnte. So herrlich und entsetzlich, dass ihm selbst jetzt noch, gut vier Tage später, ein wohliger Schauer durch den Körper rieselte.
Es war herrlich zu wissen, dass Louisa ihn so begeistern und erregen konnte. Dass sie es mit einem einfachen Kuss schaffte, ihn glauben zu lassen, innerlich in Flammen zu stehen, und er sich nach nichts anderem sehnte als nach der Wärme, die sie aussandte.
Erschreckend deshalb, weil er begriff, wie leicht sie ihn um den Finger wickeln konnte. Wie schnell und mühelos es ihr gelang, seinen Verstand auszuschalten und ihn tun zu lassen, was immer sie wollte.
Unten am Pool, wo sie ihn küsste und sie ihre nassen Brüste, die nur bedeckt waren von einem Hauch Stoff, der mehr nachzeichnete als verbarg, gegen seinen nackten Oberkörper presste, war er wie ferngelenkt gewesen. Von ihrer Nähe überrascht, von ihrer Zärtlichkeit begeistert, von seinem Dahinschmelzen verwirrt.
So wie jetzt auch noch.
Sie streichelte seine Hand, fragte ihn etwas, und er stimmte zu, ohne darüber nachzudenken.
So in Gedanken versunken schaute Tom der sich in die Schlange einreihenden und in dem dichten Gedränge verschwindenden Katrin hinterher. Selbst jetzt noch, da der Urlaub vorüber war, übte sie einen nachhaltigen Eindruck auf ihn aus. Nicht so, wie eine Frau Eindruck auf einen Mann machte. Sondern wegen ihrer Begeisterungsfähigkeit.
Ganz gleich, ob es sich dabei um die Tropfsteinhöhlen gehandelt hatte, den Aufbruch zu einer der zahlreichen ordinären Partys oder zu den Bootstouren, die einmal um Mallorca herumführten und ihnen die schönen Buchten, weißen Sandstrände und entlegenen Plätze zeigten.
Sie war von einer Energie beseelt, die Tom beneidenswert fand und die er während des Abiturs nie an ihr bemerkt hatte.
Seine Sicht der Dinge hatte sich verändert.
Und jetzt, da seine Freunde dabei waren, sich einchecken zu lassen und dann nach und nach im Inneren des Flugzeugs verschwanden, war es ihm, als konnte er all ihre Träume deutlich vor sich erkennen.
Träume und Hoffnungen, die sie mit nach Hamburg nahmen.
Hin in eine neue Welt …
… die sich nur für sie zu öffnen begann.
2017:
Die Lobby eines Hotels war wie eine Traumfabrik.
Hier trafen sich fröhliche, ausgelassene Menschen, die Pläne schmiedeten, die sich berieten und sich ausmalten, wie es sein würde, wenn sie nach Palma fuhren, durch die großen Rundbögen der La Seu gingen und sich wie erschlagen vorkommen würden, wenn sie die ehrwürdigen, hoch aufragenden Mauern des alten Bischofssitzes sahen. Oder wenn sie darüber fachsimpelten, ob sie es schaffen würden, den Puig Major de Son Torrella zu besteigen, der in fast 1500 Meter Höhe aufragte. Eingebettet von dem Serra de Tramuntana und einer atemberaubenden schönen Landschaft, an der er sich die letzten Male immer gar nicht hatte sattsehen können.
Wir uns nicht sattsehen konnten, dachte er mit einem bitteren Beigeschmack und versuchte den in seiner Brust aufsteigenden Seufzer nicht zu laut über seine Lippen kommen zu lassen.
Es genügte, wie er fand, dass er die letzten drei Nächte schon nicht gut eingeschlafen war, weil ihm seine düsteren Gedanken nicht in Ruhe ließen und er deshalb aussah wie eine Leiche auf zwei Beinen. Dann sollte seine Trübsinnigkeit ihm wenigstens nicht den Anblick der Hotellobby zerstören.
Nicht so, wie sie alles und jeden bisher niedergerungen und erdrückt hatte, was er imstande war, zu fühlen und zu lieben.
Er wusste ja selbst, es war albern, wenn er der Vergangenheit nachtrauerte. Immerhin war er ein Teil davon. Die Erinnerung, wie glücklich er einst gewesen war, als sie das erste Mal hierher gekommen waren, war Grund genug, sich zu freuen und sich auf die Schulter zu klopfen.
Er hatte es damals geschafft - oder etwa nicht?
Louisa hatte sich in ihn verliebt, er hatte sein Abitur bestanden und eine glorreiche, goldene und verheißungsvoll klingende Zukunft hatte sich vor ihm ausgebreitet.
Er hatte alles in der Hand gehabt.
Glück. Zuversicht …
… und was am Wichtigsten war: Die Liebe.
Seine