Oder Stürmer, so wie Oliver.
Ein Mann, der sich, ohne zu zögern, in den Zweikampf stürzte und jederzeit darauf wartete, dass der passende Moment für das Siegtor kam.
Torwart wäre auch nicht schlecht.
So wie Tom. Was der dieses Jahr gehalten hatte, passte auf keine Kuhhaut. Die Saison seines Lebens hatte er gespielt und die Mannschaft mehr als einmal vor dem Rückstand bewahrt.
Er aber war niemand von diesen Jungs.
Er blieb immer nur der gemütliche, liebenswerte Conny, dem alle auf den Rücken klopften, wenn er mal wieder einen Gegner umgegrätscht hatte oder zu dem sie kamen, wenn sie seine Hilfe brauchten.
Was er sich wirklich wünschte, interessierte keinen.
Nicht einen.
Sich darum zu kümmern, wohin sie nach dem Abitur fliegen sollten, das hatten sie ihm überlassen. Dass er ihren Lehrplan aufstellte, damit sie den Stoff rechtzeitig gelernt hatten, ja, dafür war er der Beste gewesen.
Aber ihn fragen, ob er wollte, dass Louisa und Katrin mit in den Urlaub flogen – Pustekuchen!
Niemand erkundigte sich danach, was er gern wollte, geschweige denn, wohin ihn seine Wege führten. Ihm war, als würden ihm seine Eltern, seine Geschwister, seine Freunde, einfach jeder absichtlich Steine in den Weg werfen, damit er stolperte.
Gerade jetzt, während er sich durch das Getümmel der Leute in Richtung Ausgang quälte, drängte sich ihm dieser Gedanke mehr und mehr auf. Es schien, als würde in ihm eine Sonne aufgehen und ihm eine neue Sicht auf die Dinge präsentieren, so wie sie bei nebelverhangenen Tagen das dichte Grau zerfasern ließ und man wieder klar sehen konnte.
Deswegen wollte er auch zu Tom und Louisa.
Sie sollten die Ersten sein, die von ihm zu hören bekamen, was er davon hielt, dass sie ihm seine eigenen Träume kaputt zu machen begannen.
Er musste es ihnen sagen – auch wenn er damit Gefahr lief, dass Louisa sich von Tom abwandte, weil sie mit solchen Vorwürfen nicht konfrontiert werden wollte. Besonders, weil Conny insgeheim auch hoffte, dass er mit seiner Offenheit eine Tür aufstieß, die Louisa gern aufgestoßen haben wollte.
Obwohl, und das irritierte ihn zusätzlich, ihn das Intermezzo eben mit Katrin ausgesprochen stark verwirrt hatte. Er wusste nicht, wieso, aber als sie ihn an sich herangezogen und ihm den „Befehl“ gegeben hatte, ihr einen Sex on the Beach zu holen, hatte er ein merkwürdiges, ein ihm völlig unbekanntes Gefühl der inneren Aufgeregtheit gespürt.
Es war mit dem Empfinden zu vergleichen, das er gehabt hatte, als er gerade fünfzehn Jahre alt geworden war und unter dem Bett seiner älteren Schwester Zeitschriften entdeckt hatte, die sich mit Dingen befassten, die er so noch nie gesehen hatte. Da war ihm erst klar geworden, dass seine Schwester doch mehr Mensch war, als er es je für möglich gehalten hatte.
Dass auch sie körperliches Verlangen hatte wie jede junge Frau von neunzehn, die nicht wusste, auf welches Ufer des Lebens sie eigentlich gehörte. Und wie damals, als er mit zitternden Fingern die Zeitschriften hervorholte und sich die schönen Frauen betrachtete, die sich mit Vibratoren, mit Butterflys und Liebeskugeln hatten ablichten lassen, so hatte er auch bei Katrin gefühlt …
… oder vielmehr gehofft.
Gehofft, dass er ebenfalls einmal in die Verlegenheit kommen würde, dass sich eine Frau zu ihm hingezogen fühlte und sich von ihm küssen, berühren und verführen lassen wollte.
Wollte Katrin das?
Er wusste es nicht.
Deswegen hatte er auch sein Heil in der Flucht gesucht und sich zur Bar durchgeschlagen, um so viel Abstand wie möglich zwischen sie beide zu bekommen. Zusätzlich zu seiner schlechten Laune verwirrte ihn das.
Er wühlte sich weiter durch die Mengen von schwitzenden und tanzenden Menschen, die sich nicht im Geringsten dafür interessierten, ob er gerade an ihnen vorbei wollte oder nicht.
Sie tanzten und tranken einfach weiter, grölten: „Mit dem Taxi nach Paris“ - und schienen ernsthaft zu glauben, dadurch irgendetwas Besonderes zu tun.
Sie soffen und schunkelten und versuchten, Mädels oder Jungs zu beeindrucken, um diese Nacht nicht allein in ihren Betten zu liegen.
Nein, sie waren alle unwichtig. Sie richteten ihre Gedanken nicht auf die entscheidenden Punkte.
Sie waren nicht wie er.
Mit dem erhabenen Gedanken, der Einzige zu sein, der das alles hier ganz genau durchschaute, trat er dann endlich nach draußen, raus aus der Großraumdisco. Er kniff die Augen zusammen und suchte nach Tom und Louisa. Irgendwo hier mussten sie sein.
Weder standen sie an der mit Stroh verdeckten Wand und unterhielten sich leise flüsternd miteinander, noch hatten sie sich einen lauschigen Platz unter den Palmen gesucht, um sich dort eng umschlungen auf eine der zahlreichen Liegen niederzulassen wie all die anderen Paare.
Sie waren gar nicht mehr hier, wie es schien.
Sie waren fort … und er mal wieder allein.
Von all seinen Freunden verlassen, von seinen Hoffnungen weiter entfernt als jemals im Leben und sich sicher, dass sich in den nächsten Tagen alles noch verschlimmern würde …
*
So aufgeregt war Louisa noch nie gewesen.
Dabei kannte sie diese Situationen doch.
Was nicht heißen sollte, dass sie mit einem Jungen schon mehr als einmal bei lauem Wind, der vom Meer herüberstrich, an einem Strand spazieren gegangen war, der dazu noch vom klaren, milchigen Weiß des Mondlichtes erhellt wurde. Nein, das ganz bestimmt nicht. Aber sie hatte schon mehr als einmal mit einem Jungen den Abend verbracht und dabei bisher immer das Gefühl gehabt, bei so etwas eine gewisse Routine zu besitzen.
Sie brauchte nur an die sechste Klasse zu denken, wo es losging, dass sie sich für Jungen und Jungen sich für sie interessierten. Ja, damals war sie noch nervös gewesen. Aber als sie dann in der achten Klasse ihren vierten oder fünften Freund gehabt hatte und die eine oder andere Knutsch-Affäre, war sie der festen Überzeugung gewesen, ein alter Hase in dem Geschäft zu sein.
Sogar letztes Jahr, als Marc Altenburger sie zu einem Date eingeladen hatte, das letztlich auf dem Rücksitz seines Wagens geendet hatte, war sie nicht so nervös gewesen wie jetzt – und das, obwohl sie Marc ausgesprochen gut hatte leiden können. Er besaß einen gewissen Charme. War lustig und geistreich, wenn auch ein wenig zu aufgesetzt intellektuell. Das hatte wiederum ihrer Mutter ausgesprochen gut gefallen und ihren Vater zustimmend nicken lassen, als Altenburger sich bei ihnen vorstellte.
Sie aber war da anderer Meinung gewesen.
Sie wollte lieber etwas anderes.
Etwas … Sie wusste es selbst nicht.
Außerdem, und das war ihr das Wichtigste gewesen, hatte sie endlich einmal ihrem beengten und sie einsperrenden Elternhaus entfliehen wollen und hatte die kesse Frage Olivers als einen Wink des Schicksals gesehen. Ja, sie war sich sicher gewesen, dass es irgendwo jemanden gegeben hatte, der sich plötzlich an sie und ihren Kummer erinnerte. Ein Kummer, den sie immer dann verspürte, wenn sie allein mit ihren Eltern am Essenstisch saß und sie beim gemeinsamen Schweigen beobachtete. Ja, es hatte da jemanden gegeben, der sie am Leben der anderen teilhaben lassen wollte.
Und so stimmte sie zu, nachdem sie klargestellt hatte, dass Oliver sie weder berühren noch begrabschen würde, um gleich darauf zu ihrer Oma zu laufen und sie zu fragen, ob es das Sparkonto noch gab, das sie für Louisa damals eingerichtet hatte.
„Natürlich gibt es das noch, mein Schatz. Warum sollte es das denn nicht mehr geben?“, hatte sie