Louisas Lippen waren ganz schmal geworden. Ihre Augen waren zu engen Schlitzen geformt, und ihre Hände hatten sich so fest um das Lenkrad des alten, klapprigen Civics geklammert, dass Tom meinte, ihre Finger würden gleich knirschen und zerbrechen.
„Ich habe nur das gesagt, was mich bewegt.“
„Du hast es so gesagt, dass ich wie ein Diktator erscheine.“
„Was du schon wieder tust“, hatte sie geschnaubt.
„Ich mag es einfach nicht, wenn du dir Hilfe bei deinen Eltern suchst, wenn du ein Problem mit MIR hast!“
Die Diskussion war noch weiter gegangen, hatte bis zur gemeinsamen Haustür gereicht und war erst dann zum Erliegen gekommen, als Tom Louisa darum bat, jetzt nicht zu weinen.
In dem Moment, da er gesehen hatte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, hatte er prompt ein schlechtes Gewissen bekommen. Gefolgt vom Gefühl der Selbstzweifel, das ihn befiel, weil er doch genau wusste, wie sensibel Louisa war, sobald es um ihre Eltern ging. Wie sehr sie an ihnen hing und es kaum ertragen konnte, von ihnen getrennt zu sein – obwohl sie sich immer darüber beschwerte, wie engmaschig ihr Vater sie kontrollierte und Besuche bei ihm einforderte.
Eine merkwürdige, eine seltsame Situation, in der sie gefangen waren und die sie erst geklärt bekommen hatten, indem sie eine Nacht darüber schliefen und am nächsten Morgen während des Frühstücks noch einmal darüber redeten.
Es war nicht exakt das gesagt worden, was Tom hören wollte, aber er hatte das Gefühl, dass er Louisa von ihrer emotionalen Welle hatte herunterholen können. Dass er ihr deutlich machte, weshalb er es nicht mochte, dass Louisa versuchte, sich Rückendeckung bei ihrer Mutter zu holen, um ihre Interessen durchzusetzen.
Dazu kam, dass Tom die zurückliegenden vier Jahre mit Louisa ausgesprochen genossen hatte.
Dass er sich gar nicht mehr vorstellen konnte, mit einer anderen Frau zusammen zu sein als mit ihr.
Dass er nur Augen für sie hatte.
Natürlich, sie war währenddessen etwas bedachter geworden, besonders seit sie das Praktikum im Kommissariat in Hamburg gemacht hatte und schonungslos vor Augen geführt bekam, wie niederträchtig und berechnend Menschen mitunter doch waren.
Was wiederum zu einer noch innigeren Beziehung der beiden geführt hatte.
Er musste nur an die letzte Nacht denken, als sie sich schon kurz vor 20 Uhr ins Bett gekuschelt hatten, da sie um drei Uhr früh aufstehen mussten. Laut der Unterlagen hatten sie sich um 4:30 Uhr am Flughafen einzufinden wegen des Check-Ins. Da war es ihm bewusst geworden, wie vertraut sie miteinander umgingen. Wie engumschlungen sie dalagen, als er ihre Nähe spürte und sie leise sagen hörte: „Ich liebe dich über alles.“
„Ich dich auch.“
„Niemals will ich, dass dir etwas passiert!“
Verwundert hatte er, schon im Einschlafen begriffen, den Kopf zu ihr gedreht und sie fragend angeschaut.
Bereits als sie heimgekommen war, war ihm aufgefallen, dass etwas sie beschäftigte. Dass etwas in ihr gärte, das sie mit Sorge erfüllte.
Auf seine Nachfrage, was denn sei, hatte sie ihm nur ein zerstreutes Lächeln geschenkt, das sie immer dann aufsetzte, wenn sie über etwas ernsthaft nachdachte. „Alles gut.“
Aber dann der Satz: „Niemals will ich, dass dir was passiert.“
Tom hatte es als seine Pflicht betrachtet, zu hinterfragen, was ihr auf der Seele lag. Und gleichzeitig wusste er, dass er nicht allzu sehr bohren durfte, wenn Louisa über etwas nicht sprechen wollte.
Da kam ganz glasklar der Dickschädel durch, den sie von ihrem engstirnigen und oft übellaunigen Vater geerbt hatte.
All das war wie weggeblasen, als sie in den Flieger stiegen und die Stewardessen sie darum baten, sich anzuschnallen und darauf zu achten, die Musik aus ihrem MP3-Player nicht zu laut zu stellen, weil sie sonst ihre Mitflieger störten.
Und eben da, als sie im Flugzeug saßen und sich dafür entschieden, noch ein wenig mit ihren wirklich aufregenden Neuigkeiten zu warten, war ihm bewusst geworden, was sie gemeint hatte.
„Du hast wieder zu schwarz gesehen.“ Er musste einfach nach ihrer Hand greifen, sie drücken und nachschieben: „Mir wird nie etwas passieren, ganz bestimmt nicht.“ Um dann zu lachen. „Es sei denn, du tust es mir an.“
„Menschen sind merkwürdig“, war ihre Antwort auf sein Versprechen gewesen. „Ich verstehe sie einfach nicht.“
Und damit hatte es sich.
Damit war alles gesagt.
Louisa hatte während ihres praktischen Einsatzes im Kommissariat in die Abgründe der menschlichen Seele schauen müssen und hatte die Sorge, ihnen könnte eine kaltherzige, boshafte Bestie begegnen, abends im Bett zum Ausdruck gebracht.
Keine ellenlangen Diskussionen.
Keine kitschig klingenden Versprechungen.
Keine hoffnungsschwangeren Dialoge über Sinn und Unsinn der Menschen.
Einfach nur sie.
So, wie sie waren.
Das liebte Tom so an seiner Louisa und war ihr unendlich dankbar dafür, dass sie es nun schon ganze vier Jahre mit ihm aushielt und keinerlei Anzeichen dafür zeigte, die Beziehung in irgendeiner Weise in Frage zu stellen.
Wir sind wieder hier, dachte er bei sich und nahm Louisa in den Arm, die ihre beiden Koffer hinter sich herzog.
„Nur einmal merken, wie es sich anfühlt!“
Der Sommer in Hamburg war, gelinde gesagt, nass gewesen. So viel Regen und Gewitter hatte er in seinem ganzen Leben nicht ertragen müssen. Immer wieder waren große Wolkenmassen über den Atlantik nach Deutschland getragen worden und hatten den bisherigen Sommer im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser fallen lassen.
Die wenigen Tage, die sie nach Studium und getaner Arbeit am Oortkaten-See verbracht hatten, waren an einer Hand abzuzählen.
Nichts war mehr mit den lauschigen Abenden im Sonnenlicht gewesen. Eher hatten sie ihre Wolldecken aus dem Bettkasten gekramt, um nicht frieren zu müssen, während sie auf Kabel-1 voller Neugier „Fackeln im Sturm“ mit Patrick Swayze gucken wollten.
Was daher kam, dass Tom sich daran erinnert hatte, wie er die Serie damals mit seinem Bruder zusammen geguckt hatte. Er, weil Geschichte und Konflikte ihn schon immer interessiert hatten, und Björn, weil er die Darstellerin von Ashley so mochte.
Jetzt, so viele Jahre später, hatte er nach einer Spätschicht im Supermarkt gelangweilt durchs Fernsehprogramm gezappt und war an dem alten Streifen hängengeblieben. Dazu war Louisa erst abends aus der Uni nach Hause gekommen und hatte ihn kritisch gefragt, was für einen Unsinn er da denn schauen würde.
„Unsinn? Das ist Kult!“
Und so lächerlich sie das alles anfangs auch gefunden hatte, sie musste später eingestehen, dass ihr die Filmreihe ausgesprochen gut gefiel. Dass sie wissen wollte, wie es den Maines in South Carolina erging und was die Hazards oben in Pennsylvania erlebten. Dass sie nicht genug davon bekam, was für Intrigen gesponnen, was für Probleme gelöst und welche Freundschaften erneuert oder vertieft wurden.
Alles im allem hatte es einen angenehmen, wenn auch niedrigen, schauspielerischen Nennwert. Dafür umso größeren Unterhaltungswert.
Als er vom Fußballtraining nach Hause kam, hatte sie schon auf der Couch gesessen, eine geöffnete Tüte Chips vor sich, die gefüllten Cola-Gläser auf dem Tisch, erwartungsvoll zu ihm geschaut und gefragt: „Willst du dich nicht setzten? Der Film geht gleich los.“
„Was gibt es denn?“
„Fackeln im Sturm“, hatte sie erklärt. „Das ist Kult. Das darfst du nicht verpassen!“