„Hätte ja sein können wegen Opa … Nun ja, du weißt schon.“
„Wegen seiner Beerdigung? Liebling, die ist doch längst bezahlt gewesen. Wir haben doch vorgesorgt“, war Omas Antwort gewesen.
Louisa hätte sich das denken können.
In ihrer Familie war immer alles abgesichert …
Alles!
Nichts wurde dem Zufall überlassen.
So hatte sie dann, schüchtern und leise, sich kaum trauend, die Frage zu stellen, danach erkundigt, ob Oma ihr den Flug und das Hotel für ihre Reise nach Mallorca bezahlen würde, weil sie so gern einmal nach Spanien wollte.
Ihre Oma hatte bezahlt.
Anstandslos.
Und sie hatte auch mit ihrem Sohn – Louisas Vater - gesprochen und ihm ins Gewissen geredet, dass solch ein Urlaub, fernab der Heimat und ohne die eigenen Eltern, zur Entwicklung eines Kindes dazugehörte und die Eigenständigkeit deutlich fördern konnte.
Worte, die wie Wasser auf den Mühlen ihres Vaters gewirkt haben mussten.
Er selbst sprach immer von Verantwortung, davon, dass Louisa ihren Weg allein gehen musste – ohne dabei zu erwähnen, dass er jeden ihrer Schritte genau überwachte, um sicherzustellen, dass sie auch das tat, was er von ihr erwartete.
So aber war er in seine eigene Falle gelaufen und hatte nur zähneknirschend seine Einwilligung geben können, dass er nichts dagegen hatte, wenn Louisa mit ihrer besten Freundin Richtung Mittelmeer aufbrechen würde.
Und sein Gesicht erst, als er sah, dass da nicht nur Katrin auf ihn wartete!
„Davon hast du nichts gesagt!“, hatte er ihr zugezischt, als sie in die große Halle des Hamburger Flughafens getreten waren und Tom sofort wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen war. Er hatte so verunsichert gewirkt wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal bemerkte, dass sich Männer und Frauen in gewissen Merkmalen ausgesprochen auffällig voneinander unterschieden.
Wie niedlich er da wirkte.
So hilflos.
So allein, obwohl sein Vater bei ihm war.
Der irgendetwas zu ihm sagte, das Tom nicht gefiel, da der danach ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter machte und aussah, als wollte er so schnell wie möglich in den Flieger steigen, um so viel Distanz wie möglich zwischen sich und seinen Vater zu bringen.
Wobei Tom für alles dankbar war, was sein Dad für ihn getan hatte. Das hatte er mehr als einmal betont, wenn er einen getrunken hatte.
„Er macht mir immer Mut“, hatte er erst gestern verraten, nachdem Oliver wieder einmal dazu aufgerufen hatte, eine Runde Kurze in sich hineinzuschütten, damit der „Abend erst mal so richtig anfangen kann“.
Unter anderem das war es, was sie so sehr an Tom faszinierte.
Er konnte Dinge aussprechen, die für sie unmöglich waren.
Während er in sanfter Hochachtung von seinen Eltern sprach, fühlte sie ihren gegenüber eine ausgesprochene Leere, die ihr körperlichen Schmerz bereitete. Was nicht bedeuten sollte, dass sie ihre Eltern nicht liebte.
Ganz gewiss nicht!
Sie vergötterte ihre Eltern.
Doch weil sie eben alles kontrollierten, alles ganz genau planten und keinerlei Gehör für die wirklichen, die innigen Wünsche ihrer Tochter hatten, war sie ihnen gegenüber so distanziert, dass sie manchmal meinte, mit Fremden an einem Tisch zu sitzen.
Außerdem, und das war noch wichtiger als Toms ehrliche Kommentare, schaffte er es, dass sie sich in seiner Nähe wohlfühlte.
Dass sie nicht glaubte, dass er das, was er tat, nur machte, weil er sie einmal ins Bett bekommen wollte.
Nein, er wirkte bei allem, was er sagte und wie er sich ihr gegenüber benahm, als käme es von Herzen.
So wie eben, als er sie auf einen Sekt einlud und sie dann fragte – gefolgt von einer sanften Berührung an ihrem Arm –, ob sie nicht hinauswollten.
„Oliver baggert rum, Conny zieht wieder mal ein Gesicht, und Katrin scheint schon durch Hollywood zu flanieren“, hatte er gesagt, als er ihren fragenden Blick bemerkte und den Moment wohl für passend hielt, ihr vorzuschlagen, einmal Zeit allein miteinander zu verbringen.
Was sie bisher nicht wirklich getan hatten.
Das eine Mal, als sie gerade gelandet waren und im Hotel eincheckten, hatte er wissen wollen, ob sie nicht zusammen zum Pool gehen wollten.
„Geile Idee!“, hatte Oliver sofort geschrien und ihm auf die Schulter gehauen. „Erst mal plantschen, bevor wir die Kneipen und Discos unsicher machen!“
Dann war da noch der vorgestrige Abend gewesen.
Katrin hatte sich mit einem der Handballer auf dem Volleyballplatz unterhalten, während Conny und Oliver sich an Hotelbar Cocktails besorgten. Da hatten sie beide einen kurzen, einen innigen Moment miteinander erleben dürfen, der ihr jetzt noch ein sanftes Kribbeln in den Bauch zauberte.
Sie hatten dagestanden, beide auf dem Balkon ihres jeweiligen Zimmers, die Arme auf der Brüstung liegend, Angesicht zu Angesicht, gegenüber. Sie hatten nichts weiter getan, als sich anzuschauen.
Sie hatte in seine dunklen Augen gesehen, hatte sein sanft geschnittenes Gesicht bewundert und sich gefragt, wie sie das Lächeln eines Kerls so niedlich finden konnte, von dem sie doch so gut wie gar nichts wusste.
Natürlich, sie hatten zusammen Abitur gemacht. Hatten sich das eine oder andere Mal oberflächlich im Bus unterhalten oder gemeinsam auf die Bahn gewartet. Aber so wirklich aufgefallen war er ihr bisher nie.
Das hatte sich erst am Flughafen ergeben.
Da war ihr bewusst geworden, was für ein sensibler und liebenswürdiger Mensch er eigentlich war.
Und so hatte sie ihm da gegenüber gestanden, ihn gesehen, ihn gerochen und auch schon geschmeckt.
Obwohl sie sich nicht geküsst hatten, meinte sie doch zu wissen, wie ein Kuss von ihm sich auf ihren Lippen anfühlte und wie sehr sie seine Zungenspitze auf der ihren genießen würde.
Aber ebenso wie ihr zweiter Moment war auch ihr erster gestört worden.
Oliver, der mit zwei Cocktails zurück zu den Zimmern gekommen war, hatte nur gebrüllt, als er die beiden da so vertraut miteinander hatte stehen sehen: „Was soll das denn für ein Mist sein? Macht ihr beiden da auf Barbie und Ken, oder was?“
Und so war der Augenblick verflogen, der Louisa verwirrt und gleichzeitig verzaubert hatte.
Erst am Abend, als Katrin sich neben sie ins Bett kuschelte und sie fragte, was sie von dem Urlaub bisher hielt, hatte sie versucht, zu begreifen, was das überhaupt passiert war. So merkwürdig und verwirrt wie in dem Moment, als sie Toms zart geschnittene Gesichtszüge bemerkte, seine schönen Augen betrachtete und sich in seinem Lächeln verlor, hatte sie sich noch nie zuvor gefühlt.
Die Ruhe, die unerwartet von Katrin ausging, war noch nie von ihr zu Louise herüber gekommen.
Bisher war es immer Katrin gewesen, die versuchte, den einen oder anderen Augenblick mit Leben zu füllen, beinahe so, als könnte sie es nicht ertragen, der Zukunft die Zeit zu lassen, um für sie alle ein eigenes Schicksal zu entwerfen.
Diesmal aber war Katrin ganz in sich gekehrt gewesen und hatte nur gefragt: „Was hältst du bisher vom Urlaub?“
„Er ist wunderschön“, war Louisas zweifelsfreie Antwort gewesen.
Was Katrin wiederum nur zu einem müden: „Hm“ veranlasste, das Louisa nicht deuten konnte.
Oder nicht wollte. Sie konnte es nicht genau sagen. Sie wusste nur, dass sie auf die Frage keine weitere Frage gestellt bekam und, von Tom träumend, eingeschlafen war.
Um