Die Sprache der Blumen. Sven Haupt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Haupt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783947721450
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das konnte nicht sein, diese Welt schien keinen Wind zu kennen. Sie hob den Blick und erspähte eine Wand aus Dunkelheit durch den Wald auf sich zurollen. Eine gewaltige Flut aus Finsternis schoss Welle auf Welle die Astpfade entlang und begrub jedes Blatt und jede Blüte unter sich. Es dauerte endlose Sekunden, bevor Lilians Hirn endlich begriff, was sie da beobachtete. Sie schluckte schwer und flüsterte:

      „Ich glaube, das sind mehr Freunde, als wir benötigen.“

      Es mussten Millionen von schwarzen Bällen sein. Das Klicken ihrer dünnen Beine klang wie ein Sturmwind in den Wipfeln des Waldes. Die Sturmflut spülte die Wege entlang genau auf sie zu. Der Anblick der schieren Größe des Schwarms überforderte Lilian derart, dass sie nicht einmal auf die Idee kam, zu fliehen. Fasziniert betrachtete sie die rhythmischen Wellen, die sie schon in der Bewegung der einzelnen Beine gesehen hatte und die sich jetzt in den Wellenbewegungen des Schwarms fortsetzte. Rhythmische fraktale Codedynamik, flüsterte es auf einmal in ihrem Kopf. „Woher bitte …“, begann sie, als sie ein Schlag auf ihren Hinterkopf aus der Trance riss.

      „Au!“, rief sie und sah nach oben, wo George mit der Linken an einem Bündel Lianen hing und ihr die Rechte entgegenstreckte.

      „Hand!“, bellte er.

      Lilian reichte sie ihm gehorsam und wurde sofort mit unfassbarer Kraft in die Höhe gezogen, eine Sekunde, bevor die vorderste Welle des Schwarms den Pfad unter sich begrub.

      #include <HIMMEL>

      Lilian klammerte sich panisch an den Rücken des Affen, während dieser sich mühelos an den Lianen nach oben zog.

      „Ich glaube, mein Bein ist gebrochen!“, rief sie.

      „Nicht jetzt“, erwiderte George knapp und hangelte sich seitwärts an dem Blättervorhang entlang, bis er die überhängenden Äste eines Baumes erreichte, der am Rand des Astpfades wurzelte. Hier schwang er sich mit einer fließenden Bewegung hoch und rannte den Stamm empor. Das Gewicht der jungen Frau auf seinem Rücken schien er nicht einmal zu bemerken. In der Krone griff der Affe nach einer Liane, die dort mit dem Stamm verknotet war und sie weiter auf dem Weg zum nächsthöheren Astpfad brachte. Lilian, die sich das Atmen langsam wieder erlaubte, überwand den ersten Schock und verfolgte beeindruckt, mit welchem Geschick und Tempo der Affe an Höhe gewann.

      „Sieht so aus“, kommentierte sie, „als würdest du diesen Weg nicht zum ersten Mal nehmen“.

      „Nicht meine erste Flucht“, entgegnete der Affe.

      Sie passierten zügig Ebene für Ebene auf ihrem Weg nach oben.

      George ist mit seinem Körper deutlich besser an diese Welt angepasst als ich, dachte Lilian, während sie das harte Pulsieren in ihrem Bein zu ignorieren versuchte.

      Die Astpfade wurden langsam schmaler und verschwanden kurze Zeit später ganz. An ihre Stelle traten breite, dicht verzweigte Äste, deren dichtes Laubwerk die Sicht stark einschränkte. Dafür beschleunigte der Affe seinen Anstieg hier noch einmal. Seine gedrungene Gestalt mit den langen sehnigen Armen war wie gemacht für diese Umgebung und selbst mit Lilian, die wie ein Sack auf seinem Rücken hing, zeigte George noch immer keinerlei Anzeichen von Ermüdung.

      „Wie weit ist es noch?“, fragte Lilian irgendwann. „Und nebenbei: Wo wollen wir eigentlich hin?“

      „Krone“, entgegnete der Affe knapp.

      „Und warum wollen wir in die Krone?“, fragte Lilian hartnäckig weiter.

      Der Affe seufzte und hielt einen Moment inne, um zu antworten: „Es sind noch etwa einhundert bis zweihundert Meter. Wir wollen an einen Ort, an den uns der Schwarm nicht folgen wird, jetzt, wo er dich gescannt hat, weil du unbedingt die Warnungen deines kleinen Flatterfreundes ignorieren musstest. Der Schwarm kennt jetzt dein Muster und wird es nie wieder vergessen. Er wird seinen Weg an deinen anpassen, wenn du in seine Reichweite kommst. Die Krone ist der einzige Ort, wohin uns der Schwarm nicht folgen kann. Das Astwerk ist dort oben zu dünn und würde unter seinem Gewicht kollabieren.“

      Lilian schwieg angesichts dieser Eröffnung und dachte über Georges Worte nach. Sie verfolgte stumm seinen Aufstieg entlang der dicksten Äste und bemerkte, wie um sie herum plötzlich zahllose kleine, blaue Wasserfrüchte an den Ästen hingen.

      „Sind das die Regenblüten?“, fragte sie leise.

      „Wir durchqueren die Regenschicht“, entgegnete der Affe. „Sind etwa zwanzig Meter.“

      Lilian verdrehte den Kopf, um nach oben zu sehen, und schnappte unwillkürlich nach Luft.

      „Himmel!“, rief sie laut. „George, sieh doch, da oben. Da ist der Himmel. Er ist blau - ganz blau.“

      George schnaufte.

      „Nein, wirklich? Da bin ich aber froh, habe ich ja doch nicht die falsche Richtung genommen.“ Er wies mit einem Arm voraus. „Da vorne ist übrigens unser Ziel.“

      George kletterte einen steil ansteigenden Ast entlang, als schlenderte er über einen normalen Pfad. Weit über ihnen, in einer großen, vielfach verzweigten Astgabel, zeichnete sich ein runder, dunkler Umriss gegen den hellen Himmel ab. Lilian kniff die Augen zusammen.

      „Ist das ein Nest?“, fragte sie verblüfft. „Ich wusste gar nicht, dass Affen so große Nester bauen.“

      „Tun sie auch nicht“, entgegnete George. „Aber es gibt hier oben ein paar Unterarten der Flatterbälle, die, wegen der Größe ihrer Flügel, nur dicht an der Krone leben können. Wenn sie ihre Nester verlassen, erweisen diese sich als überaus nützlich für heimatlose Primaten.“

      Sie erreichten ein rundes Nest mit hohem Rand. Es hatte einen Durchmesser von mindestens drei Metern und bestand aus dicken, eng verflochtenen Ästen. Die Lücken waren mit Gras abgedichtet. Die ganze Konstruktion wirkte überaus solide. Lilian fragte sich gerade, wie sie ohne Hilfe ihrer Beine in das Nest kommen sollte, als George sich auf einen Ast neben dem Nest hochzog, hinter sich griff, Lilian auf beide Arme nahm und kurzerhand über den Rand des Nestes warf, als wäre sie ein Stapel Handtücher.

      Sie schnappte erschrocken nach Luft, landete jedoch weich auf einem Haufen Kissen und Decken. George saß auf dem Rand des Nestes und sah auf sie herunter.

      „Willkommen in einem meiner Nachtlager“, verkündete er. „Ich kann dir leider nicht viel anbieten, ich bekomme selten Besuch hier oben.“

      Lilian blinzelte und sah sich um.

      „Du hast mehrere von diesen Orten?“

      „Oh ja, manchmal bauen die großen Flatterbälle ein neues Nest, dann wieder zerstören sie ein altes, aber ich bin da sehr flexibel. Ich reise gerne mit leichtem Gepäck.“ Er zeigte grinsend seine Zähne. „Also - normalerweise.“ Lilian musste lächeln und flüsterte: „Vielen Dank für die Rettung.“

      Sie legte den Kopf in den Nacken und versuchte das starke Pochen in ihrem Bein nicht zu beachten. Über ihnen zeigten sich nur noch wenige Meter Blätterdach. Dahinter strahlte ein blauer, wolkenloser Himmel.

      „Wie weit oben sind wir?“, fragte Lilian und genoss den Anblick des tiefen Blaus. George saß immer noch auf dem Rand des Nestes und sah konzentriert nach unten. „Etwa anderthalb Kilometer über der Höhle, circa vier über dem Boden.“

      Lilian dachte einen Moment darüber nach, dann sah sie zu George hinüber.

      „Wonach suchst du? Erwartest du Verfolger?“

      „Späher“, erklärte George knapp. „Der Schwarm schickt immer einzelne Läufer voraus, die den Weg erkunden. Sie sind nicht gefährlich, aber mit hundert von denen in einem Nest aufzuwachen ist eine Erfahrung, die man nicht öfter als einmal haben muss, glaub mir.“

      „Wonach suchen sie, dass sie in solchen Massen auftreten?“

      Der