Ich hörte die Kirchturmuhr sechsmal schlagen. „Zeit fürs Abendbrot“, dachte ich bitter und musste beinahe lachen. Kaum zu glauben, dass mir das Heimleben auf einmal komfortabel erschien.
Die Decke fest um meinen Leib geschlungen und zitternd, lief ich eine der zwei großen Hauptstraßen entlang, die es in Felsburg gab und die von Laternen gesäumt waren. Es tat gut, ein wenig Licht in der Kälte zu haben und sich auszumalen, dass dieses die Umgebung ein klein wenig erwärmte. Ich begegnete kaum einem Menschen, und wenn, dann eilten sie an mir vorüber, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, als existierte ich gar nicht. Nicht nur war ich allein, ich war zu allem Überfluss auch noch unsichtbar geworden.
Zu meiner Linken und Rechten reihten sich Läden aneinander, die meisten waren bereits geschlossen oder gerade dabei zu schließen. Schuhläden, eine Bäckerei, ein Möbel- und Teppichladen, ein Zeitungsstand.
Vor einem Schaufenster blieb ich stehen. Durch das Glas war eine kopflose Holzpuppe zu sehen, die einen Mantel aus dicken Fellen trug. Ich legte meine Hand an das kalte Glas und versuchte mir vorzustellen, wie es sein musste, diesen jetzt zu tragen. Ich scheiterte. Er musste ein Vermögen kosten. Ich seufzte und ging weiter.
Was Leana wohl gerade machte? Den Boden einer feinen Küche schrubben? Delikate Speisen auf einem Silbertablett servieren? Woher hatte sie gewusst, worauf man zu achten hatte, wenn man jemanden bediente? Denn dass sie auf die Probe gestellt worden war und bestanden hatte, das hatte ich an Ernestines verdattertem Gesichtsausdruck erkannt. Im Waisenhaus war uns nur beigebracht worden, die Hände vor dem Essen zu waschen und wie man Messer und Gabel zu halten hatte, ohne dabei seinen Sitznachbarn zu massakrieren. Nicht aber, wie man wohlhabende Hexen bediente. Leana musste aus dem Kern stammen, ob nun als Tochter einer Bediensteten oder einer reichen Familie. Wie aber hatte sie dann ihren bedauernswerten Weg hinab in das düsterste Loch im Ring gefunden, das sich Waisenhaus nannte? Es brannte mir unter den Nägeln, mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden, und doch würde ich sie nicht fragen können. Ich wollte ihr nicht wehtun.
Ich dachte an meine eigene Vergangenheit. Kein Gedanke zum Aufwärmen. Das Gesicht einer jungen Frau blitzte vor meinem geistigen Auge auf. Wie konnte etwas, das so lange zurücklag, noch so sehr schmerzen? Ich schluckte schwer und verdrängte meine traurigen Erinnerungen, indem ich mich auf meine Umgebung konzentrierte.
Die Hauptstraße hatte ich nun hinter mir gelassen und eilte zügigen Schrittes eine schmalere, unbeleuchtete Gasse entlang. Der Himmel über mir war mit unbarmherzigen Wolken bedeckt und weder Mond noch Sterne konnten mir so ihr Licht senden, das ich gut hätte gebrauchen können. Es war stockfinster und meine Augen gewöhnten sich nur langsam daran. Immer wieder stolperte ich über lose Steine in der Straße und fluchte leise. Flüche hatten im Waisenhaus Prügel nach sich gezogen. Ich war oft geprügelt worden.
Schließlich fand ich meinen Weg durch die Dunkelheit und hielt mich nun in unmittelbarer Nähe zur Stadtmauer auf, die sich wie ein dunkler Riese vor mir in den Himmel erhob. Die Tore waren sicher längst geschlossen worden, doch ich hatte ohnehin nicht im Sinn, in den Ring zurückzukehren. Es war besser, arm zwischen den Reichen zu sein als zwischen den Armen. Wie eine Taube, die auf herabfallende Brotkrumen wartete. Oder wohl eher eine Ratte, denn Davonfliegen war mir nicht vergönnt.
Im Angesicht der Nacht konnte ich noch immer nicht viel erkennen, doch ich wusste von früheren Besuchen des Kerns, dass die Gebäude kleiner und unscheinbarer wurden, je näher man der Mauer kam. Es war schon eine ganze Weile her, seit ich das letzte Mal in dieser Gegend gewesen war, doch ich konnte mich an einen bestimmten Laden erinnern, der damals meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Ich wusste nicht, ob es ihn überhaupt noch gab oder ob ich ihn wiederfinden würde, doch nun hatte ich ein Ziel für meine Füße, und auch wenn das nur ein kleiner Trost war, so tat es doch unwahrscheinlich gut. Augenblicklich bewegten sie sich zügiger über den gefrorenen Boden, ja, fast schon eifrig. Ich war so verzweifelt darauf aus, einen Plan zu haben, wie ich es Leana vorgegaukelt hatte, dass ich beinahe froh war zu wissen, was als Nächstes kam. Oder es zumindest zu hoffen.
Ich weiß nicht, ob es am Ende Glück, Zufall oder die Eifrigkeit eines Verzweifelten war, die mich den Laden schließlich in einem entlegenen Winkel der Stadt finden ließ. Ich war unglaublich erleichtert, als ich endlich vor dem zerkratzten Schaufenster stand, als hinge mein Leben von seinem Bestand ab. Nun, vielleicht war dem auch so.
Mich interessierte nicht der Krimskrams, der dort vor meinen Augen aufgetürmt war und mir den Blick hinein beinahe vollständig mit heilloser Unordnung versperrte. Aber vielleicht das, was sich dahinter verbarg.
Mein Herz pochte schneller und ich lächelte fast, denn es brannte noch Licht im Ladenbereich. Beinahe war ich wieder guter Dinge. Als ich jedoch an die Tür trat, sank meine Hoffnung bodentief, denn ein Geschlossen-Schild hing daran. Ich konnte zwar nicht lesen, doch erkannte ich den Unterschied zum Geöffnet-Schild am Schwung der letzten Buchstaben. Ich war zu spät.
In hässlichen Wölkchen wurde mein Atem im Schein des Lichtes sichtbar, als wollte er mich verhöhnen. „Du wirst erfrieren“, schien er zu wispern. „Vielleicht nicht heute, aber du wirst es, allein hier draußen.“
„Oh nein“, murmelte ich trotzig und begann wie ein Wilder, mit den Fäusten gegen die Tür zu hämmern. Ich musste dort hinein, jetzt sofort, und mein Schicksal den nach mir ausgestreckten Klauen des Winters entreißen. Und mochten sich mir noch so viele Geschlossen-Schilder in den Weg stellen!
Ich hielt inne und wartete auf eine Reaktion auf den unangebrachten Lärm.
Nichts. Stille.
Hatte mich der Ladenbesitzer nicht gehört? War er taub? Ich klopfte noch einmal, dieses Mal jedoch züchtiger.
Wartete wieder.
Nichts.
Aber da war Licht! Da musste noch jemand im Laden sein. Oder hatte man schlicht und ergreifend vergessen, es zu löschen, und ich stand hier und schlug mir ganz umsonst die Handknöchel wund?
„Hallo?“, rief ich. War da ein Geräusch hinter dem Holz oder bildete ich es mir nur ein, weil ich fror und es mir wünschte? Ich lauschte angestrengt, doch was auch immer meine Ohren wahrgenommen hatten, es war wieder still. Wütende Enttäuschung ergriff Besitz von mir und ich sank an der Tür hinab zu Boden.
Ich könnte am nächsten Tag wieder hierherkommen und erneut mein Glück versuchen. Aber das hieße, eine ganze Nacht in der Kälte ausharren ...
Ich könnte das Schaufenster mit einem großen Stein einwerfen, um so in den Laden zu gelangen, aber dafür war es noch nicht spät genug. Ich könnte gesehen und festgenommen werden. Dazu kam, dass ich noch nie irgendwo eingebrochen war, wenn man meinen unerlaubten Einstieg in die Hütte im Ring nicht zählte.
Im Ring gestaltete sich ein solches Unterfangen leichter. Doch hier im Kern waren die Häuser besser geschützt und man lief Gefahr, von einem der Nachtwächter festgenommen zu werden, welche die Stadt abliefen, sobald es dunkel wurde. Wenn mir jedoch nichts anderes übrig blieb, würde ich wohl zu solchen Mitteln greifen müssen. Ich würde warten, bis es spät in der Nacht war und ich nicht mehr Gefahr lief, von Passanten gestört zu werden. Schon bei dem Gedanken daran begann mein Herz schneller zu pochen. Ein Taschendieb musste nur schnell und einigermaßen geschickt sein, ein Einbruch hingegen benötigte sorgfältige Planung, wollte man auf der sicheren Seite sein. Zeit dafür hatte ich allerdings nicht.
Ich musste an Leana denken, die Diebstahl verabscheute. „Aber was bleibt mir denn anderes übrig? Erfrieren?“, dachte ich, wie um mich vor ihr zu rechtfertigen, als wäre sie noch bei mir. Nein, ich hatte nicht das Waisenhaus überstanden, nur um demnächst in irgendeiner einsamen Straße zwischen den Villen steinreicher Leute den Löffel abzugeben.
Nein, ich würde warten.
Ich zog die Decke fester um mich und machte es mir gemütlich. Gemütlich. Ich musste beinahe lachen. Die Kälte der steinernen